Bis heute scheiden sich die Geister daran, was von der politischen Bewegung, die als 68er bezeichnet wird, ausging, was sie an Veränderungen bewirkte und was als „Nachlass“ übrig bleibt. Während die einen davon überzeugt sind, dass die politische, kulturelle und intellektuelle Aufbruchstimmung der 60er Jahre erforderlich war, notwendig die „spießige“ Alltags- und politische Situation in Deutschland veränderte und unser aufgeklärtes, demokratisches Bewusstsein bis heute beeinflusst, sehen die anderen in den 68ern, wie dies der Berliner Historiker Götz Aly in seiner Analyse „Unser Kampf 1968 – ein irritierender Blick zurück“ (2008) beschreibt, „Spätausläufer des Totalitarismus mit einer gewissen Nähe zum Nationalsozialismus“. Eine Schimpfe, die von den 68ern als ein Sakrileg und Geschichtsverklitterung, als „albern, degoutant und unverständlich“ empfunden wird. Der Streit um die 68er ist, besonders in ihrem Jubiläumsjahr, in vollem Ausmaß und unversöhnlich entbrannt.
Über die Aufgeregtheiten und gegenseitigen Verdächtigungen hinaus ist es vielleicht dann nicht schlecht, sich den Vorbereitern und Protagonisten der 68er-Generation in ihren Originaltexten, Reden und Programmen hörbar und lesbar zu nähern.
Da ist der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977), der mit seinem Buch „Das Prinzip Hoffnung“ die intellektuelle Parole für die studentische Aufbruchstimmung lieferte. Dann der Sozialphilosoph Max Horkheimer (1895-1973), der mit seiner „Kritischen Theorie“ („Frankfurter Schule“) kulturkritische Elemente in den Diskurs brachte.
Herbert Marcuse (1898-1979) hat mit seinem Buch „Die Kritik der reinen Toleranz“ starken Einfluss auf die Studentenbewegung der damaligen Zeit ausgeübt, ebenso wie Theodor W. Adorno (1903-1969) als Leiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und Mitbegründer der „Frankfurter Schule“.
Auch Alexander Mitscherlich (1908-1982) trug mit seiner Neubegründung der Psychoanalyse zur Wahrnehmungserweiterung und -korrektur der 68er Bewegung bei. Und schließlich darf Rudi Dutschke (1940-1979), als Symbolfigur der westdeutschen Studentenrevolte, nicht vergessen werden.
In der Geschichtsschreibung, der politischen und gesellschaftlichen Reflexion über die Studentenbewegung Ende der 60er Jahre ist unstrittig: 68 hat früher begonnen. Die durch die Währungsreform von 1948 eingeleitete Neuregulierung des wirtschaftlichen Geschehens mit der konsequenten Ausrichtung auf die Kräfte des freien Marktes, auch mit der Wirtschaftshilfe durch den Marshall-Plan, haben dazu geführt, dass sich bereits Ende der 50er Jahre die Bundesrepublik als zweitstärkste Wirtschaftsmacht nach den USA entwickelte.
Selbstzufriedenheit, Sattheit und „der Blick nach vorn“ haben in der bundesrepublikanischen Gesellschaft bewirkt, dass der „Blick zurück“, in die eigene, verstrickte Geschichte des Nationalsozialismus weitgehend vermieden wurde. Die „Verdrängung“ der deutschen Geschichte hat hier ihren Anfang. Die Kinder der Väter und Mütter, die möglicherweise in jener Zeit Täter, zumindest aber unkritische Mitläufer waren, begannen danach zu fragen, wie deren Rolle im Nationalsozialismus war und wie es zu Rassismus, Völkermord und Holocaust kommen konnte.
Vor allem die Studierenden waren es, die in der Verweigerung der Erwachsenen, sich mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinander zu setzen, eine Verweigerung zum Dialog über die Zukunft der Gesellschaft sahen. Aus der Entmilitarisierung nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich mit der Gründung der Bundeswehr am 5. Mai 1955 eine Politik der Wiederbewaffnung, was zu erheblichen innenpolitischen Auseinandersetzungen führte. Die erhoffte Entkolonialisierung wurde durch den Vietnamkrieg gestoppt, und Rassismus schien durch die Ermordung des US-amerikanischen Bürgerrechtlers Martin Luther King wieder aufzusteigen. In der Bundesrepublik wurden die Notstandsgesetze erlassen; der „Prager Frühling“ scheiterte.
In dieser politischen Gemengelage von nationalen, autoritären und staatlichen Ansprüchen und beginnenden internationalen Verflechtungen und hegemonialer Macht waren es die Frankfurter und Berliner Studentinnen und Studenten, die im Mief der Talare ihrer Professoren, von denen nicht wenige auch im Nationalsozialismus in Amt und Würden waren, die Fortsetzung der gesellschaftlichen Entwicklung sahen. Dies aber wollten sie verhindern. Und zwar mit Mitteln, die sowohl ungewohnt und „unschicklich“ für die gesellschaftlich Bestimmenden waren, als auch die etablierte Staatsmacht herausforderte: Sit-ins, Blockaden von Vorlesungen, Erzwingung von Diskussionsforen, zudem mit „Verkleidungen“ und Outfits, die die Erwachsenenwelt provozierten.
Vor allem die Suche nach theoretischen, politischen und philosophischen Begründungen für einen „revolutionären Wandel“ in der Gesellschaft war es, die einige Theoretiker zu so genannten „Gründungsvätern“ und Initiatoren der 68er Bewegung machte.
Die einzelnen Redebeiträge der Apologeten der 68er sind auf jeweils einer CD zu hören. Sie dokumentieren den Standort und die Standpunkte der Theoretiker und Praktiker jener Zeit. Für die Einschätzung der dramatischen und dramaturgischen Situationen der Epoche sind gerade die akustischen Eindrücke und Life-Mitschnitte interessant; sicherlich nicht nur für die „Alt-68er“, sondern auch für all diejenigen, die sich mit den teilweise fahrlässigen Einschätzungen – „die 68er sind an allem Schlimmen Schuld!“ – nicht abspeisen lassen, sondern die selbst nachschauen, nachhören und nachdenken wollen, was die Aufbruchstimmung bewirkt hat.
Die letzten Beiden der insgesamt acht CDs wollen „die kurze Geschichte einer Kulturrevolution“ deutlich machen. Mit dem Slogan „Demokratie – jetzt oder nie!“ soll die Stimmung verdeutlicht werden, die ein schwedischer Journalist Anfang Juni 1967, nach dem Tod von Benno Ohnesorg im Eindruck der Demonstrationen am Berliner Kurfürstendamm prognostizierte: „Das ist der Anfang der Demokratie in Deutschland.“
Die Beiträge im zweiten Teil der siebten CD kreisen um den Slogan „Trau keinem über 30!“, der den Generationenkonflikt der Zeit kennzeichnete. Mit der Skandierung „Ho-Ho-Ho Chi Minh!“ wollten die selbsternannten studentischen Revolutionäre um Daniel Cohn-Bendit und anderen die Weltveränderung bewirken. Dieses Kapitel der 68er wird in der achten CD im ersten Teil dargestellt. „Frauenpower macht Männer sauer!“ – die Provokation von barbusigen Frauen läutete die Emanzipationsbewegung „als antiautoritäre Revolte in der Revolte“ ein und stellt den zweiten Teil der letzten CD dar.
Das dem CD-Paket beigegebene 36-seitige Booklet wird abgeschlossen mit einer Zeittafel der Jahre 1966 bis 1968; gewissermaßen mit dem schlagenden Argument von Beate Karsfeld, die am 7. November 1968 auf dem CDU-Parteitag in West-Berlin den damaligen Bundeskanzler Kiesinger wegen dessen Nazivergangenheit ohrfeigte.
Ein Urteil darüber, ob die 68er Bewegung nur eine provokative Episode in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland war, oder ob die 68er Grundlagen der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen gelegt haben, die bis heute wirken, mag sich jeder Hörer der CDs selbst bilden. Mit der Herausgabe der Hörtexte jedenfalls wird ein wichtiges Dokument der deutschen Nachkriegsgeschichte vorgelegt. Es sollte für die schulische, studentische und Erwachsenenbildung eingesetzt und diskutiert werden.
Literaturangaben:
SONNER, FRANZ-MARIA (Hrsg.): Was war, was bleibt. Die 68er und ihre Theoretiker. Verlag Antje Kunstmann, München 2008. CDs im Schuber, 426 Min, 29,90 €.
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