Von Carolin Beutel
Vor zwölf Jahren ist das Aufsehen erregende Debüt „Der gefälschte Himmel“ des österreichischen Autors Richard Obermayr erschienen. Nun tritt er mit seinem zweiten Roman „Das Fenster“, der sich dem abstrakten Begriff der Zeit widmet, zurück auf die Bildfläche. Eine fortschreitende Handlung ist kaum auszumachen. Vielmehr verlangsamt der Erzähler den Erzählfluss, indem er versucht, die Erinnerung an jenen Sommer voller Schwermut zu beschwören, in dem er und seine Eltern ihr Leben verloren. Nur weiß der Sohn nicht, ob sich jemals der Ausgangspunkt, der eine Augenblick auffinden lässt, an dem das Unglück und eine Kugel in der Luft ihren Lauf nahmen.
Bis zuletzt stellt sich dem Leser die Frage, ob der Schuss aus dem Revolver in der Hand der Mutter jemals abgefeuert wurde und wer es schließlich war, den er schmerzlich traf. Es ist diese Leerstelle, die stets offen bleibt, der blinde Fleck, der das eigene Spiegelbild nicht verlassen will, dem sich der Roman Obermayrs in immer neuen Gleichnisvariationen anzunähren versucht. Auf seiner Suche zelebriert der Sohn die Erinnerung an den Ort seiner Kindheit, an jenes „Paradies der Müdigkeit“.
Dabei arrangiert er ein geisterhaftes Familienporträt, ein Bild, auf dem Figuren abseits aller Zeit an einem Tisch sitzen, immer wieder die gleichen Stücke und Rollen durchspielen, während sie sich nur noch in einer Seitenlinie der Zeit aufzuhalten scheinen. In einem atmosphärischen Bilderstrom lässt er sie als Schauspieler in einer Tragödie, als Artisten in einer Manege, als Boxer im Ring oder Stierkämpfer in einer Arena auftreten und versucht, so die „zerbrechliche Ordnung der Dinge“ zu ergründen.
Am Ende triumphiert das stete Fortschreiten der Zeit, das auch der Erzähler nicht dauerhaft aufzuhalten vermag. Eine kurzweilige Lektüre hat Richard Obermayr nicht geschrieben, doch vermag er in „Das Fenster“, lebendige Bilder für schier Unbeschreibliches zu erschaffen. Sein hochpoetisches Buch enthält vieles, das nach dem Lesen in Erinnerung bleibt.
Literaturangabe:
OBERMAYR, RICHARD: Das Fenster. Jung und Jung Verlag, Salzburg 2010. 267 S., 22 €.
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