Von Dorothee Arndt
Es wäre falsch, behaupten zu wollen, Rilke würde die Geschichte des verlorenen Sohnes als seine eigene betrachten. Genauso wenig bietet das berühmte Gleichnis den einzigen Deutungsrahmen für das Leben der erzählenden Figur in dem Prosaroman „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“. Es nimmt jedoch einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert ein. Bereits in seiner Monographie über den französischen Bildhauer Auguste Rodin hatte Rilke die Skulptur „Prière“ (ursprünglicher Titel: Der verlorene Sohn) besonders eindringlich beschrieben:
„So ist jener schmale Jüngling, der kniet und seine Arme emporwirft und zurück in einer Geste der Anrufung ohne Grenzen. (...) Das ist nicht ein Sohn, der vor dem Vater kniet. Diese Gebärde macht einen Gott notwendig, und in dem, der sie tut, sind alle, die ihn brauchen. Diesem Stein gehören alle Weiten; er ist allein auf der Welt.“
Im Gegensatz zum Grundlagentext aus dem Lukanischen Sondergut, gibt es in Rilkes Vision des verlorenen Sohnes, die er auch in Rodins Skulptur zu lesen vermeint, kein eindeutiges Wiedergefundenwerden. Der Sohn geht dem Vater, der Familie, den Liebenden verloren und verliert sich einsam in der Welt. Aber es ist eine Einsamkeit, die nicht aufgehoben werden kann. In ihr offenbart sich vielmehr das Gebet – la prière – des Künstlers. Ein Schaffender, egal ob Maler, Bildhauer oder Lyriker, so Rilkes Ansicht, kann nicht anders als einsam sein. Denn nur so kann er in der Welt arbeiten. Er muss verloren gehen, um in der Welt nicht verloren zu gehen.
Rainer Maria Rilke ist in Mode gekommen. Spätestens seit der Vertonung seiner Gedichte im sogenannten "Rilke Projekt", für das Schauspieler und Sänger wie Nina Hagen, Xavier Naidoo, Katja Riemann oder Otto Sander ihre Stimmen zur Verfügung gestellt haben, wird Rilke wieder gesummt, gehört, gelesen.
„Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ ist zeitlebens der einzige Versuch in Prosa gewesen, den der Prager Beamtensohn Rainer Maria Rilke unternommen hat. Gut einhundert Jahre nach der Erstveröffentlichung 1910 hat der Manesse Verlag dieses interessante Kleinod aus dem umfangreichen Œuvre des berühmten Lyrikers nun neu aufgelegt. Beigefügt wurden ergänzende Textpassagen aus dem Nachlass, dazu zählen jeweils zwei alternative Fassungen für Anfang und Schluss des Malte, zudem in den Text übernommene, aber sorgfältig herausgestellte Passagen, die im Originalmanuskript als Randnotizen zurückgeblieben waren.
Rilke-Freunden ist der Inhalt des Malte bereits bekannt, allen anderen schnell erzählt. Denn die insgesamt 72 Aufzeichnungen nehmen sich derart bruchstückhaft aus, dass eine episodisch-offene Struktur, aber kein tatsächlicher Handlungsstrang entsteht. Es sind vielmehr Erinnerungen, Eindrücke, Reflexionen aus dem Leben des Erzählers. Der dänische Adlige Malte Laurid Brigge ist 28 Jahre alt und hat Zeit seines Lebens nicht wirklich arbeiten müssen. Ein wenig hat er sich an Dramen und kleinen Versen versucht, zufrieden ist er damit jedoch nicht.
Zu Beginn der Aufzeichnungen trifft Malte in Paris ein, die laute, gedrängte Weltmetropole, in der er sehen lernen möchte. Dem Leser präsentieren sich eine Reihe innerer Monologe über die äußeren Stadt- und Stadtmenschenphänomene. Durchaus tagebuchartig überschaubar nimmt sich dieser Anfang aus. Man liest von Maltes herbstlichen Spaziergängen durch die Tuilerien oder wie er seine Nachmittage in der Bibliothéque Nationale verbringt. Doch der erzählerische Knoten platzt schnell und gibt Raum für eine experimentell-assoziative Erinnerungsarbeit.
In einem derartig staccato-haften Duktus stellt Rilke Bild neben Bild, dass die sanfte Zentriertheit, die man von seiner Lyrik her gewohnt ist, sich im Malte ungewohnt atemlos zerstreut. Man spürt allzu deutlich, dass Malte lediglich Vehikel ist – eine Figur, die Rilke erschuf, um seine Ideen in einen erzählerischen Rahmen transponieren zu können. Aber gerade dieses Ringen des Lyrikers mit Form und Sprache, zudem das Hin- und Herwälzen der typisch Rilkeschen Themenkomplexe wie Liebe, Einsamkeit, Identität, Schicksal, Wirklichkeit und Tod, gibt dem Malte seinen besonderen Reiz.
Wenn Rilke hier von „Gott in seinem äußersten Abstand“ spricht oder vom „Wunderbaren der natürlichen Dinge“, dann stehen seine Worte in der Weite der Prosalandschaft ungleich schutzloser im Raum, als in der gewohnten Dichte seiner Lyrik. Im Malte wird deutlich, dass Rilke, wie jeder andere auch, für seine Orientierung arbeiten musste.
Den Königsberger Philosophen Immanuel Kant beschäftigte einmal die Frage „Wie man sich im Denken orientiert“. Man könnte auch fragen, wie man sich überhaupt in der Welt orientiert. Rilke, als Advokat ihrer, hätte wohl geantwortet: „Durch die Dinge“. Denn auch im Malte sind es die Dinge – egal welcher Art sie sind und wenn es der Deckel einer Blechbüchse auf dem Kaminsims eines Zimmernachbarn ist, denen sich angenähert wird. Die man wieder für das sehen können möchte, was sie sind. Für Rilke sind auch die Dinge auf ihre spezielle Art und Weise beseelt und der Mensch tut schlecht daran, sie nicht nur nicht zu beachten, sondern sie sogar ihren Zwecken zu berauben. So schreibt Rilke im Malte:
„Hier zeigt es sich so recht, wie verwirrend der Umgang mit den Menschen auf die Dinge gewirkt hat. (...) Die Dinge sehen das nun schon seit Jahrhunderten an. Es ist kein Wunder, wenn sie verdorben sind, wenn sie den Geschmack verlieren an ihrem natürlichen, stillen Zweck und das Dasein so ausnutzen möchten, wie sie es rings um sich ausgenutzt sehen.“
Denn in dem Maße, wie der Mensch die Beseeltheit der Dinge erkennt und wahrnimmt, sieht er auch seine eigene Beseeltheit in ihnen gespiegelt. Ihre Verwirrung ist seine Verwirrung.
„Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ haben sich ihr hundertjähriges Jubiläum durchaus verdient und die Neuauflage kommt Rilke-Fans wie Rilke-Neulinge in Aufmachung und Zusammenstellung gleichermaßen entgegen.
Literaturangabe:
RILKE, RAINER MARIA: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Manesse Verlag, Zürich 2010. 320 S., 22,95 €.
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