Von Tonka Rohnstock
Was tut man, wenn die eigene Mutter spurlos verschwindet? Wenn man von einem Tag auf den anderen zur Halbwaise wird? Wenn man neben Problemen mit dem Vater und ungetrübter Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Mutter, neben erster Liebe und immer wieder kommenden Alpträumen auch noch zu allem Überfluss erwachsen werden soll?
Florine, die junge Hauptfigur in Morgan Callan Rogers Roman „Rubinrotes Herz, eisblaue See“, soll genau diese Probleme bewältigen. Ein kleines malerisches Fischerdorf an der Ostküste der USA bildet den Schauplatz des Romans. Und das Dorf ist nicht nur Kulisse, sondern auch Programm: Das Bild eines amerikanischen 60er-Jahre-Kleinstadt-Idyll mit seinen Ansichten und Werten steigt vor dem geistigen Auge des Lesers herauf. Oder jedenfalls das, was man sich als nicht-kundiger Leser darunter vorstellt, inspiriert von Filmen wie „Pleasantville“ (welcher natürlich in den 50ern spielt, aber da nimmt man es mit Klischeebildern nicht so genau).
Männer, die wie all die Generationen der Männer vor ihnen mit ihren kleinen Kuttern auf die raue See fahren, um ihre Familien zu ernähren. Davon bekommen sie ganz schwielige Hände, mit denen sie abends liebevoll ihre Kinder streicheln. Dann setzen sie sich an den Tisch, der schön dekoriert und reichlich beladen auf die Familie wartet. Sie verspeisen das wunderbar schmeckende Essen, welches die (Haus-)Frau nach ihrem Frühjahrs- bzw. Spätjahres- bzw- Anfangsjahres- oder auch Rundumjahresputzes schon seit dem Morgen in der Küche gebrutzelt, gebacken und gekocht hat.
So behütet wächst Florine auf. Bis eines Tages ihre Mutter Carlie spurlos verschwindet. Da ist sie noch ein halbes Kind, beneidet aber schon die Mutter ihres tollen Körpers und der Ausstrahlung wegen und nimmt auch die Spannungen wahr, die zwischen dem Vater und der Mutter bestehen. Denn Carlie ist nicht bereit á la „Pleasantville“ immer nur auf ihren Gatten zu warten und zu kochen. Sie will raus.
So zieht sich über den ganzen Roman die Frage: Was ist mit Carlie passiert? Ist sie ausgebrochen? Wurde sie Opfer eines Verbrechens? Würde es diese Mutter übers Herz bringen, ihre kleine Tochter im Stich zu lassen? Für Florine bleibt die Frage quälend, bringt sie fast um den Verstand. Für den Leser ist sie der Spannungsbogen der Geschichte.
Dass daneben vor allem die Sehnsucht der Autorin nach ihrer eigenen Kindheit in Maine an der Küste durchschimmert, welche sie immer wieder in den schillerndsten Farben auszumalen weiß, bettet die Handlung gut ein, macht sie aber auch nicht spannender. Einband und Titel versprechen trotzdem ganz zu Recht das Abtauchen in eine Welt der Gezeiten, voller Farbkraft und Emotionen, welche leider des Öfteren in überbetriebene Sprachbilder gekleidet werden.
Neben dem Nachfühlen der Liebesabenteuer und dem Miterleben, wie andere Beziehungen (zum Beispiel die zum Vater Leeman) unter dem Verschwinden der Mutter leiden, dem Hin- und Hergerissen sein zwischen Verständnis und Mitleid mit Florine auf der einen Seite und wachsende Wut über ihre Sturheit (gerade was die neue perfekte Frau an Daddys Seite betrifft) auf der anderen Seite, spürt man als Leser doch eine seltsame Diskrepanz zwischen Sprache und Handlung:Obwohl so viel Herzzerreißendes passiert, die Charaktere durchweg menschlich gezeichnet sind und das Verschwinden einer so wichtigen Person im Leben kaum auszuhalten sein dürfte, bleibt vor allem der Geschmack dieses Mikrokosmos einer perfekten Kleinstadt haften. Hier wird jeder Garten akribisch gepflegt, das Einfamilienhaus jedes Jahr neu gestrichen, es werden Kranzwinde-Abende von den Frauen veranstaltet, jeder Mann übt noch einen rechtschaffenen Männerberuf aus und alles ist in Ordnung. Dass die Ereignisse diesen Rahmen nicht zu durchbrechen vermögen, kann sowohl Positiv als auch Negativ bewertet werden: Florines Welt ist so gefestigt, dass nichts sie aus dem Ruder zu bringen vermag.
Deshalb fühlt man sich auch gut eingebettet in dieses plüschweiche Vermissten-Drama. So gut, dass man zum Schluss lieber noch ein wenig länger in Florines Welt bleiben würde, um zu sehen, wie sie ihr weiteres Leben meistert.
Überraschend offen ist der Umgang mit dem Thema Sex, der in unsere, nicht aber so ganz in die Zeit der Romanhandlung passen will. Doch so wird auch der Eindruck verstärkt, die Geschichte könnte (mit einigen Änderungen) genauso gut heute spielen. Sich trennende Eltern, Abschied nehmen, Schmerz bewältigen, unglückliche Romanzen, Stress in der Schule, erste sexuelle Bedürfnisse, Freundschaft: Alles Themen, die Teenager bewegen. Und deshalb ein lesenswertes Buch, auch für Leute, die gerne in Erinnerungen an eine Kindheit schwelgen wollen, die sie so nicht hatten.
Literaturangabe:
ROGERS, MORGAN CALLAN: Rubinrotes Herz, eisblaue See. Mare Verlag, Hamburg 2010. 432 S., 19,90 €.
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