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Rudy Wiebe: „Von dieser Erde bin ich gemacht“

Der kanadische Schriftsteller über seine Kindheit in Saskatchewan

Von: MONIKA THEES - © Die Berliner Literaturkritik, 06.05.08

 

„Kindheit wird nur bewahrt in dem, was man nicht vergisst.“ Der Schriftsteller Rudy Wiebe, 1934 als Sohn russlanddeutscher Mennoniten im Westen Kanadas geboren, blickt zurück auf seine frühen Jahre und Jugend. „Von dieser Erde“ nennt der inzwischen 74-jährige Autor, Filmemacher und langjährige Professor für englische Literatur seine Kindheitserinnerungen, die 2007 mit dem Charles Taylor Prize, dem in Kanada angesehensten Preis für nicht fiktionale Literatur, ausgezeichnet wurden. Es ist ein schönes Buch, ein Buch, das uns entführt in die Wälder Saskatchewans, ein sanfter und melancholischer Rückblick, der uns eintauchen lässt in eine untergegangene Welt.

Rudy Wiebes Geburtshaus in Speedwell, „nördlich von North Battleford, auf halbem Weg nach Meadow Lake, westlich von Highway 4“, ist längst verfallen. Espen, Pappeln, Birken und Fichtengruppen bedecken wieder das Land, das seine Eltern dem steinigen nördlichen Urwald abgewannen, um Platz zu schaffen für Hof, Viehweiden und Ackerland. 65 Hektar stellte die Canadian Pacific Railway Company (CPR) den mennonitischen Einwanderern zur Verfügung. Wiebes „Pah“ und „Mam“, Abram und Katerina Wiebe, kamen aus Romanowka in Orenburg am Ural, sie entkamen der Verfolgung unter Stalin und fanden im kanadischen Busch eine „freie“ Heimstätte inmitten der Gemeinschaft ihrer Glaubensbrüder und -schwestern.

Rudys „Muttasproak“ ist Plautdietsch, das westpreußische Niederdeutsch, von den Mennoniten aus dem holländischen Friesland mitgenommen auf ihren Wanderungen nach Polen/Preußen, in die Ukraine, nach Russland, schließlich nach Nord- und Südamerika. Erst in der Schule lernte er Englisch und durch die Gottesdienstsprache Deutsch. Weitab von „de groote Welt“ wuchs er auf, mit sechs Geschwistern, mit dem geliebten Hund Carlo und den zahlreichen Tieren des Hofes. Seine früheste Erinnerung reicht ins Jahr 1937, noch nicht einmal drei war er da. Ein Bild aus jener Zeit zeigt seine Familie, sonntäglich gekleidet, vor ihrem CPR-Haus aus geschälten und mit Lehm verfugten Fichtenstämmen.

Die Wiebes wohnten wie alle kanadischen Heimstättner auf dem Land, das sie bearbeiteten, fernab von Nachbarn und Freunden. Nur am Sonntagnachmittag war Zeit zum „speziere gohne“. Das Besuchemachen war so wichtig wie der Sonntagmorgen in der Kirche und oft die einzige Unterhaltung nach einer arbeitsreichen Woche. Man traf sich bei Tweeback (Doppelsemmeln) und Pripps (Gerstenkaffee) zum Liedgesang und vor allem zum Resse-riete, dem lebhaften Erzählen von erfundenen wie erlebten Geschichten. Vielleicht liegen hier die Ursprünge der Liebe Wiebes zur Sprache, Literatur und Musik; später, auf der Highschool in Coaldale, wird ein Lehrer Rudys schriftstellerische Begabung erkennen und fördern.

Die großen Themen seines literarischen Schaffens wurden die Geschichte der Mennoniten und die seiner kanadischen Heimat. Mehrfach erhielt Rudy Wiebe für sein literarisches Werk den Governor General’s Award, den bedeutendsten Literaturpreis Kanadas. Zwei seiner Romane, „Land jenseits der Stimmen“ (2001) und „Wie Pappeln im Wind“ (2004), sind auf Deutsch erschienen, beide im Eichborn Verlag. Joachim Utz, der Übersetzer von Stephen Spender, Ford Madox Ford und anderen, übertrug auch die jetzt im Bonner Tweeback Verlag erschienenen Kindheitserinnerungen Wiebes.

Anhand alter Schwarz-Weiß-Fotografien in Familienbesitz, der erhaltenen Tagebuchnotizen seiner Schwestern Liz und Helen und mithilfe seines Gedächtnisses tastet Rudy Wiebe sich zurück in die Jahre 1937 bis 1947 und vergegenwärtigt seine Kindheit in eindrucksvollen und berührenden Bildern. Einzelne Episoden, wie der morgendliche fünf Kilometer lange Weg zur Schule, die Wärme einer Kuh beim Melken, die Faszination und Stärke eines Hengstes, aber auch der qualvolle Tod seiner Schwester Helen, fügen sich zu einem Panorama damaligen mennonitischen Lebens, das bestimmt war von harter Arbeit, Familie und der Gemeinschaft im Glauben.

Rudy Wiebe ist ein begnadeter Erzähler, der frühe sinnliche Eindrücke und Erinnerungsspuren zu eindringlichen Szenen verdichtet, der das Land schildert, auf dem er aufwuchs; seine Familie und ihre Nachbarn, die dem kanadischen Urwald das abgewannen, was sie zum Leben brauchten; ihr Leben im Glauben, der ihnen Halt und Orientierung gibt, gerade in Zeiten der Not und des Krieges. In den 1940er Jahren dringt dieser bis in die Wälder Saskatchewans. Seit 1939 kämpft Kanada an der Seite der Alliierten, die allgemeine Wehrpflicht (1940) wird erneut zur Gewissensfrage für die „Weereloosen Christenen“, wie sich die Mennoniten wegen ihres entschlossenen Bekenntnisses zum Pazifismus nennen.

Rudy Wiebe schildert die abendlichen Gespräche in der Familie, berichtet von der Gegenwart des Krieges in der Schule in Speedwell, über die im Tiefflug die Maschinen des British Commonwealth Air Training Plan donnern. Sein älterer Bruder Dan kauft ein Batterie-Radio, die Nachrichten der Welt erreichen jetzt per Rundfunk das abgeschiedene Farmhaus der Wiebes. Seine erste Zugfahrt 1945 führt den knapp 11-Jährigen mit seinen Eltern nach Vancouver, Straßenbahnen, gepflasterte Straßen, Wohnungen mit Zentralheizung und elektrischem Licht, eine Stadt „ größer und lauter als alles, was ich kannte“, schreibt Wiebe und: „Ich fing an, diese fremde Welt in mich aufzunehmen.“

Das vertraute Speedwell, bislang Rudys t’Hus, sein Zuhause, löst sich auf. Abschied, Auszug liegen in der Luft. Immer mehr Familien verlassen 1946/47 ihre Farmen, ziehen in Städte oder die Prärie Südalbertas. „In jenem Jahr wurde ich das einzige Kind aus dem südwestlichen Teils des Bezirks, das zur Schule ging […] zweimal am Tag drei Meilen Hin- und Rückweg um Bäume und Sümpfe herum und über die leeren Höfe.“ In Coaldale nahe Lethbridge erwartet den Vater ein fester Job, Rudy die Gleichaltrigen in der Highschool, die Mengen der Bücher in der öffentlichen Bibliothek – und außer ihnen „noch das Land: offen und bis zum fernsten Horizont sichtbar. Es gab die Erde, den Himmel, den unaufhörlichen Wind“.

„Ich musste mich nur in diesen atmenden Wind stemmen, um ein Gefühl für dieses Land zu entwickeln: ein Land zu unermesslich, um es zu überblicken, dem bloßen Auge unergründbar – vielleicht aber ertastbar durch Worte, mit größter Sorgfalt aneinandergereihte Worte […].“ Rudy Wiebe wird sie festhalten und in den kommenden sechzig Jahren gekonnt zusammenfügen: in Erzählungen, Romanen, Gedichten, die dieses Land, seine Menschen und Geschichte beschreiben, – und zu den Erinnerungen an seine frühen Jahre, an „Eine mennonitische Kindheit im borealen Urwald Kanadas“.

Literaturangaben:
WIEBE, RUDY: Von dieser Erde. Eine mennonitische Kindheit im borealen Urwald Kanadas. Aus dem kanadischen Englisch von Joachim Utz. Tweeback Verlag, Bonn 2008. 400 S., 24,95 €.

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Monika Thees ist Redakteurin dieses Literatur-Magazins


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