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Rückkehr nach Missing

Ein Epos über Familie, Intimität und die wundersame Schönheit

© Die Berliner Literaturkritik, 04.12.09

FRANKFURT AM MAIN (BLK) – Abraham Vergheses Roman „Rückkehr nach Missing“ wurde vom Suhrkamp Verlag im Juli 2009 veröffentlicht. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Silvia Morawetz.

Klappentext: Äthiopien in den sechziger Jahren: Marion und Shiva Stone, eineiige Zwillingsbrüder, wachsen als Waisenkinder in einem Missionshospital in Addis Abeba auf, der Kaiserstadt Haile Selassies. Ihre Mutter, eine schöne indische Nonne, starb bei ihrer Geburt, ihr Vater, ein britischer Chirurg, verschwand spurlos. Marion und Shiva sind unzertrennlich, und sie verbindet die Faszination für die Medizin, doch als sie zu jungen Männern heranwachsen, treibt die Liebe - ihre Leidenschaft für dieselbe Frau - einen Keil zwischen die beiden. Marion muss aus seinem von politischen Unruhen geschüttelten Heimatland fliehen, kommt nach Amerika und geht in seiner Arbeit in einem New Yorker Krankenhaus auf. Doch dann holt ihn die Vergangenheit ein, und er muss sein Leben ausgerechnet in die Hände der beiden Männer legen, denen er am wenigsten vertraut: seinem Vater, der ihn im Stich gelassen, und seinem Bruder, der ihn betrogen hat.

Abraham Verghese wurde als Sohn indischer Eltern in Äthiopien geboren. Er wuchs in der Nähe von Addis Abeba auf und studierte Medizin. Nach seiner Übersiedlung in die USA arbeitete er als Arzt, unter anderem in einer Klinik für Aids-Patienten, zu einer Zeit, in den achtziger Jahren, als noch wenig für sie getan werden konnte. (olb)

Leseprobe:

©Suhrkamp Verlag©

Nach acht im Dunkel des Schoßes unserer Mutter verbrachten Monaten kamen mein Bruder Shiva und ich am späten Nachmittag des dreißigsten September im Jahr der Gnade, 1954, auf die Welt. Wir taten unsere ersten Atemzüge auf einer Höhe von dreitausend Metern in der dünnen Luft von Addis Abeba, der Hauptstadt von Äthiopien. Das Wunder unserer Geburt ereignete sich im Operationssaal 3 des Missing Hospital, in demselben Raum, in dem unsere Mutter, Schwester Mary Joseph Praise, den Großteil ihrer Stunden verbrachte, bei einer Arbeit, in der sie Erfüllung fand. Als bei unserer Mutter, einer Nonne des Bischöflichen Karmeliterordens von Madras, an jenem Septembermorgen Åberraschend die Wehen einsetzten, hatte der schwere Regen aufgehört. Das Prasseln auf die verrosteten Blechdächer des Krankenhauses brach so abrupt ab, wie ein Plappermaul mitten im Satz verstummt. über Nacht erblähten in der plötzlichen Stille die Meskel-Blumen und vergoldeten die Hügel von Addis Abeba. Auf den Wiesen triumphierte das Riedgras Über den Morast, und jetzt erstreckte sich ein leuchtender Teppich bis zum gepflasterten Eingang des Missing und versprach etwas, das wichtiger war als Kricket, Krocket oder Federball. Das Missing Hospital stand auf einer grünen Anhöhe, eine unübersichtliche Ansammlung von weiß getünchten ein- und zweigeschossigen Gebäuden, die aussahen, als seien sie bei denselben geologischen Verwerfungen an die Erdoberfläche geschoben worden, die auch das Plateau des Entoto hervorgebracht hatten. Muldenartige Blumenbeete, die von dem aus den Dachrinnen Überlaufenden Wasser lebten, umzogen die 9 geduckten Gebäude wie ein Burggraben. Die Rosen der Oberin Hirst okkupierten die Mauern, ihre dunkelroten Blüten rahmten alle Fenster und kletterten bis ans Dach. So fruchtbar war der lehmige Boden, dass die Oberin – die kluge und besonnene Leiterin des Krankenhauses – uns mahnte, nicht barfuss darauf zu laufen, falls wir nicht wollten, dass uns neue Zehen sprossen. Fünf Wege verliefen, von schulterhohen Büschen flankiert, vom Gebäude des Krankenhauses wie die Speichen eines Rads zu fünf strohgedeckten Bungalows, die über und über von Dickicht, Hecken, wildem Eukalyptus und roten Zierbananen umstanden waren. Nach dem Willen der Oberin sollte das Krankenhaus aussehen wie ein Arboretum oder wie ein Teil von Kensington Gardens (wo sie, bevor sie nach Afrika kam, als junge Nonne spazieren gegangen war) oder wie der Garten Eden vor dem Sündenfall. Das Missing hieß eigentlich Mission Hospital, ein Wort, das die äthiopische Zunge mit einem Zischen aussprach, wodurch es wie Missing klang. Ein Angestellter im Gesundheitsministerium, frisch von der Highschool, hatte auf dem Formular zur amtlichen Zulassung „The Missing Hospital“ getippt, in, was ihn betraf, phonetisch korrekter Schreibung. Ein Reporter des Ethiopian Herald hatte diesen Rechtschreibfehler dann in die Welt getragen. Als sich die Oberin Hirst an den Angestellten im Ministerium wandte, um den Fehler korrigieren zu lassen, zog der sein maschinen geschriebenes Originaldokument hervor. „Sehen Sie selbst, Madam. Quod erat demonstrandum. Es heißt Missing“, sagte er, so als habe er bewiesen, dass der Satz des Pythagoras stimmt, daß die Sonne den Mittelpunkt des Sonnensystems bildet, dass die Erde rund ist und dass das Missing genau dort ist, wo man es sich denkt. Also blieb es bei Missing.

©Suhrkamp Verlag©

Literaturangabe:

Verghese, Abraham: Rückkehr nach Missing. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 770 S., 24,80 €.

Weblink:

Suhrkamp Verlag


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