MÜNCHEN (BLK) – Im A1 Verlag erschien 2008 Thomas Kings Roman „Medicine River“.
Klappentext: In seinem Roman „Medicine River" porträtiert Thomas King mit einzigartigem Humor und voller subtiler Wahrheiten das Leben in einer Kleinstadt nahe einem Blackfoot-Reservat im Westen Kanadas. Das Buch erhielt mehrere Auszeichnungen und stand auf der Shortlist des Commonwealth Writers' Prize. Will, ein Fotograf aus Toronto, kehrt in seine Heimatstadt Medicine River zurück, um an der Beerdigung seiner Mutter teilzunehmen. Eigentlich soll es nur ein kurzer Aufenthalt werden, doch Will hat die Rechnung ohne seinen Freund Harlen Bigbear gemacht. Harlen, ständig darum bemüht, das Leben von Nachbarn und Freunde zu regeln, versucht ihn von der Idee zu überzeugen, ganz nach Medicine River zurückzukehren und als einziger Native-Fotograf ein Studio zu eröffnen. Will aber fühlt sich von seinen Wurzeln, der Familie und den Freunden entfremdet. Doch Harlen findet auf alles eine Antwort, und schon bald spielt Will im örtlichen All-Native-Basketball-Team und lernt die schwangere, unverheiratete Louise Heavyman kennen. Jenseits von Ethno-Romantik oder aufgesetzter Sozialkritik schreibt King mit einer guten Dosis Humor über das Alltagsleben der Native Americans im Nordamerika von heute, über gebrochene Biographien, menschliche Schwächen, Freundschaft, Liebe und Tod.
Thomas King, 1943 als Sohn eines Cherokee und einer griechischstämmigen Mutter geboren, wuchs in Kalifornien auf, studierte englische Literatur an der Universität von Utah und arbeitete als Photojournalist in Australien und Neuseeland. Er ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Kinderbüchern und entwickelte Radioshow „The Dead Dog Café Comedy Hour“ des Rundfunksenders CBC. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet. Heute lehrt er als Professor für englische Literatur und Creative Writing an der Universität von Guelph/Ontario.
Leseprobe:
©A1 Verlag©
Thomas King
Medicine River
Louise wurde immer dicker und in mir erwachte das Bedürfnis, sie zu beschützen. Ich begann, ihr die Autotür aufzuhalten. Ich hakte sie unter, wenn wir eine vereiste Straße überqueren mussten. Eines Tages nahm Louise nach einem gemeinsamen Abendessen meine Hand und legte sie auf ihren Bauch. „Hier, Will", sagte sie. „Du kannst ihre Tritte fühlen." Ich wollte nur helfen, so wie Harlen immer sagte. Ich half ihr aufzupassen, was sie aß. Ich half ihr ein bisschen bei der Namenssuche. „Wie wäre es mit Wilma?", meinte Louise. „Ich hatte eine Großmutter, die Wilma hieß." „O Gott, bloß nicht." „Jamie?" „Nein." „Elizabeth?" „Vielleicht." „Sarah?" „Geht so." „Will, du bist mir wirklich eine große Hilfe." Wir wurden nie ein Liebespaar. Der richtige Zeitpunkt dafür schien einfach nicht zu kommen. Wir waren Freunde. Es war schön, mit Louise zusammen zu sein, aber gleichzeitig war zwischen uns eine gewisse Distanz und Louise erhielt sie aufrecht. Ich dachte, dass es etwas mit Harold zu tun haben müsse. In der Nacht, in der Louise anrief, hatte ich fest geschlafen. „Will, ich muss ins Krankenhaus. Ich weiß nicht, ob ich selbst fahren kann. Würdest du mich hinbringen?" Es dauerte über eine Stunde, bis die Anmeldeformalitäten erledigt waren. Louise musste immer wieder eine Pause machen, sich bücken und tief durchatmen. Schließlich brachten sie sie in ein Zimmer und ein Arzt untersuchte sie, während ich draußen wartete. „Der Muttermund ist nur vier Zentimeter weit geöffnet, Will. Vermutlich kommt das Baby nicht vor morgen früh. Vielen Dank, dass du mich hergefahren hast, und überhaupt für alles. Ich sage ihnen, dass sie dich anrufen, wenn sie da ist." „Ich habe gerade nichts Besseres vor. Warten macht mir nichts aus. Vielleicht ist es ein Junge und dann könntest du etwas Hilfe wegen des Namens brauchen." „Das hat doch keinen Sinn, Will, es dauert zu lange. Du hast noch was anderes zu tun." „Vielleicht warte ich einfach trotzdem. Für alle Fälle." „Ich habe hier alles, was ich brauche." Das Wartezimmer war klein und hatte keine Fenster. An der Wand hing ein großes Schild, das das Rauchen verbot, und auf dem Sofa saß ein Typ im Anzug und rauchte. Ich ging zum anderen Sofa, wedelte mit meinem Arm herum, hustete ein paar Mal und sah demonstrativ zu dem Schild hinüber. „Dieses Kinderkriegen dauert ganz schön lange", sagte er. „Ich bin schon seit drei Stunden da." „Ich glaube, das ist ein Nichtraucherzimmer", sagte ich. „Die lassen einen einfach hier sitzen. Einmal ist die Schwester vorbeigekommen und hat gesagt, dass es meiner Frau gut geht. Heutzutage wollen sie, dass man mit in den Kreißsaal kommt, aber was soll ich da? Etwa das Kind auffangen?" Der Mann lachte, trat seine Zigarette auf dem Fußboden aus und schüttelte die nächste aus der Packung. „Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?" Ich sagte, dass es mir etwas ausmache und er steckte die Zigarette zurück in die Packung. Wir saßen einander gegenüber und starrten die Wände an. Nach einer Weile stand er auf und meinte: „Unser Arzt fand, es wäre besser, das Baby mit einem Kaiserschnitt zu holen, aber Karen regte sich darüber nur auf. Wie heißt Ihre Frau?" „Ich bin nicht verheiratet." „Ach ... ach so, ja. Wissen Sie was? Ich laufe ein bisschen herum. Vielleicht hole ich mir irgendwo einen Kaffee. Wenn die Schwester kommt, dann sagen Sie ihr bitte, dass ich bald wieder zurück bin. Und wenn sie einen Kaiserschnitt machen wollen ... auch gut, dann sollen sie mich eben anpiepen, oder? Manchmal haben sie ja keine Wahl, oder? Ich meine, die machen so was doch ständig. Ich hatte ihr gesagt, dass das schon in Ordnung wäre." Die ersten vier Stunden waren gar nicht so schlimm. Irgendjemand hatte unter dem Zeitschriftenstapel einen alten Nero-Wolfe-Krimi liegen lassen. Ich hatte ihn schon mal gelesen, aber vergessen, wer der Mörder war. Der Typ mit der Zigarette kam nie wieder zurück. Nach sechs Stunden erwischte ich eine Schwester, die gerade aus der Entbindungsstation kam, und fragte sie nach Louise. „Was tun Sie denn hier?" „Ich dachte, ich warte." „Ich wette, Ihre Frau hätte sie gerne an ihrer Seite. Sie könnten sehr viel für sie tun." „Ja, klar." „Im Wartezimmer herumzusitzen ist ziemlich altmodisch. Die meisten Männer sind gerne dabei, wenn ihre Ehefrauen entbinden. Ist das Ihr Erstes?" „Äh ... ja." „Gehen Sie einfach den Gang runter. Erste Tür rechts." Die Entbindungsstation lag im südlichen Teil des Krankenhauses. Über der Doppeltür war in großen Buchstaben „South Wing", Südflügel, zu lesen. Ich trieb mich einige Minuten lang im Gang herum und dachte darüber nach, ob ich zu ihr gehen und Hallo sagen sollte. Eine der Türen stand ein Stück weit offen. Ich lehnte mich dagegen und schlüpfte in den Gang, gerade als eine weitere Schwester aus einem Zimmer kam. „Kann ich Ihnen helfen?" Ich hatte keine Zeit, mir eine glaubwürdige Lüge zu überlegen. „Sie ist hier irgendwo ... Mrs. Heavyman ... Louise." „Sind Sie Ihr Mann?" „Ja, sicher ... Ich meine ... Ich bin ein Freund, irgendwie ..." „Freunde und Bekannte müssen draußen warten." Ich las den Roman zu Ende, saß auf dem Sofa und sah den Ärzten und Schwestern zu, die in Zimmer hineingingen und sie wieder verließen. Ich weiß nicht, wie spät es war, als mich die Schwester weckte. „Mr. Heavyman, Mr. Heavyman! Ihre Frau ist jetzt in der Austreibungsphase. Es dürfte nicht mehr lange dauern." Sie lächelte mich an, schüttelte dann den Kopf und ging, bevor ich Zeit gehabt hätte, etwas zu erklären. Die Cafeteria war geschlossen. Ich musste mir meinen Kaffee aus einem Automaten holen. Ich trank zwei Schlucke und schüttete den Rest weg. Ich ging ins Wartezimmer zurück und wartete. Ich begann, über Louise nachzudenken und zum ersten Mal, seit ich nach Medicine River zurückgekehrt war, fühlte ich mich gut. Klar und stark. Vielleicht konnten wir es versuchen, wir mit dem Baby, und so. Ich dachte noch darüber nach, als Harlen und Floyd und Elwood und Jack Powless hereinkamen. „Ich hatte dir gesagt, dass er hier sein würde, Floyd", sagte Harlen. „Du schuldest mir ein Bier." Harlen, Floyd und Elwood setzten sich mir gegenüber auf das Sofa. Jack breitete sich auf meinem Sofa aus. „Was macht ihr denn hier?" Ich versuchte, nicht unfreundlich zu klingen. „Wir wollten nur nach Louise schauen. Wie geht es ihr?" „Es geht ihr gut. Die Schwester meint, es kann noch acht bis neun Stunden dauern. Es macht für euch keinen Sinn, hier zu warten. Ich glaube, ich gehe auch bald wieder." Harlen machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Keiner von ihnen sah aus, als wollte er irgendwohin gehen. „Verdammt, Will", sagte Floyd. „Wie fühlt es sich an, Vater zu sein?" Elwood brüllte vor Lachen und schlug Floyd auf die Schulter. Floyd beugte sich vor und tätschelte mein Knie. Harlen ließ sich noch tiefer ins Sofa sinken. Wir saßen alle herum und taten, als würden wir lesen, als die Schwester wiederkam. „Mr. Heavyman?" „Das ist er", erklärte Elwood, ließ die Zeitschrift fallen und verbarg das Gesicht in seinen Händen, damit die Schwester nicht sah, dass er lachte. „Ihre Frau hat soeben eine Tochter geboren. Wir machen sie sauber und wiegen sie, und dann können Sie zum Säuglingszimmer kommen und sie sich ansehen. Ihre Frau hatte ein paar kleinere Komplikationen, aber es geht ihr gut. Sie ist nur müde. Sie können bald zu ihr. Machen Sie sich keine Sorgen, es geht ihr gut." Sobald die Schwester den Raum verlassen hatte, brach die lärmende Hölle los. Floyd und Elwood sprangen auf, tanzten herum, klopften einander abwechselnd auf den Rücken, schüttelten mir immer wieder die Hand und sagten Sachen wie: „Es ist ein Mädchen, Mr. Heavyman" und: „Ihrer Frau geht es gut, Mr. Heavyman", und: „Sie können gleich Ihre Tochter sehen, Mr. Heavyman." Sogar Jack Powless, der nur selten etwas sagte, schüttelte mir die Hand und meinte, Kinder seien wunderbar und ein Segen. Zwanzig Minuten lang musste ich mit vier grinsenden Arschlöchern herumsitzen. Dann kam eine Krankenschwester und rettete mich. „Sie können jetzt zu Ihrer Tochter, Mr. Heavyman." Auf diese Worte hin fielen Elwood und Floyd einander um den Hals. „Sie ist ein großes Mädchen", sagte die Schwester, „Drei Kilo und achthundertsiebenundzwanzig Gramm." Bevor ich sie halten durfte, musste ich einen Kittel anziehen. Sie war in eine Decke eingewickelt, und nur das Gesicht und die Augen schauten heraus. Ich hatte gedacht, die Augen würden geschlossen sein wie bei einem Welpen oder einem Kätzchen, doch das waren sie nicht. Sie waren offen und die Kleine schaute mich an. „Ich wette, dass Sie schon einen schönen Namen für sie ausgesucht haben." Durch die Glasscheibe konnte ich das große Schild über der Entbindungsstation sehen. „Ja", sagte ich und fühlte mich großartig mit dem Baby in meinen Armen. „Wir werden sie vermutlich South Wing nennen." Ich nehme an, dass ich glaubte, die Schwester dadurch zum Lachen zu bringen, aber sie lachte nicht. „Ist das ein traditioneller indianischer Name?" „Ich habe nur Spaß gemacht." „Nein, ich finde den Namen sehr schön." Das kleine Mädchen sah mich immer noch an und ich blieb einfach in dem Schaukelstuhl im Säuglingszimmer sitzen. Ich wäre auch noch länger dort geblieben, wenn nicht die Schwester gekommen wäre und mir gesagt hätte, dass meine Frau jetzt wach sei und das Baby sehen wolle. „Nur eine Sekunde", sagte die Schwester. „Wir legen sie in ein Bettchen und Sie können sie mit hinübernehmen." Ich hatte nicht mehr an Floyd, Elwood, Jack Powless und Harlen gedacht. Als ich das Bettchen den Flur hinunterschob, schaute ich ins Wartezimmer, doch es war leer. South Wing war immer noch wach, mit weit aufgerissenen Augen. Ich dachte über Louise nach und darüber, dass sie niemanden hatte, dass ihre Familie böse auf sie war und alle Freunde sie verleugneten. Vielleicht sah es gar nicht so schlecht aus, dachte ich. Vielleicht könnte es klappen.
Manchmal frage ich mich, warum ich Harlen überhaupt noch zuhöre. Louise war in 325 C. Dort waren auch ihre Mutter und ihr Vater, zwei ihrer Brüder und alle ihre Schwestern, drei Tanten, einige Leute, die ich nicht kannte sowie Harlen, Floyd, Elwood und Jack Powless, der sich zwischen irgendwelche Stühle und den Heizkörper gequetscht hatte. „Hey, Will", sagte Louises Vater, „was machst du denn hier? Ach, du hast ja meine kleine Enkelin. Junge, ist die winzig!" Louise hatte sich im Bett aufgesetzt, aber sie fühlte sich nicht wohl und ließ es auch bleiben, so zu tun, als ob es ihr gut ginge. „Hier", sagte Louises Mutter, „lass Louise das Baby halten und wir machen ein Foto. Beeil dich, Carter, denn das Baby braucht jetzt viel Schlaf und viel zu essen. Komm, Will, gibt sie mir." Carter Heavyman holte seine Instamatic heraus. „Hey, Will, du hättest eine von deinen Kameras mitbringen sollen." Er sah zu mir herüber und lächelte. „Wo hast du den Kittel her?" Carter machte das Foto und alle drängelten sich um das Bett, um das Baby zu sehen. Auf die Karte am Stubenwagen hatte die Schwester „South Wing Heavyman" geschrieben. Niemand sah mich rausgehen. Ich verließ das Krankenhaus in der Absicht, im Dunkeln spazieren zu gehen und mir die Sterne anzuschauen, doch es stellte sich heraus, dass es zehn Uhr morgens war. Die Sonne stand hoch und es war heiß. Ich fuhr bei Woodward's vorbei und kaufte einen Stoffpinguin für das Baby. Den Rest des Tages verschlief ich. Am Abend nahm ich den Pinguin mit ins Krankenhaus. „Ich freue mich, dass du vorbeikommst, Will. Heute Morgen ging es hier zu wie im Irrenhaus. Mom musste Dad hinausschleifen, damit ich mich ein bisschen ausruhen konnte." „Ich habe das hier für das Baby gekauft." „Sie heißt Wilma, Will. Sie ist jetzt unten im Säuglingszimmer, aber wenn du willst, kannst du sie besuchen. Die Schwestern halten dich für meinen Mann. Wo hast du nur den Namen South Wing her?" „Es sollte ein Witz sein." „Dad gefiel er sehr gut." „Wilma ist besser." „Sie ist wunderschön, nicht wahr, Will? Sobald sich alles etwas eingespielt hat, koche ich uns ein Abendessen. Vielleicht können wir auch mal ins Kino gehen, oder so" „Klar." „Du verstehst das doch, Will, nicht wahr?" „Klar." Das Säuglingszimmer wirkte hell und lebendig. Einige Babys waren wach und schrien. In der Ecke saß eine Mutter im Schaukelstuhl und stillte ihr Kind. Die große Glasscheibe war hart und kühl, und ich lehnte mein Gesicht dagegen und sah South Wing beim Schlafen zu. Die Schwester am Arbeitspult lächelte mich an und kam zu mir herüber. „Das muss Ihr Erstes sein", meinte sie. „Welches ist es denn?" Harlen und die anderen waren beim Basketballtraining und Mr. und Mrs. Heavyman waren vermutlich ins Reservat zurückgekehrt. Louise war in ihrem Zimmer. South Wing lag in ihrem Bettchen, eingewickelt in eine rosafarbene Decke. Ich blickte mich auf dem Flur um. Die Luft war rein. „Das da", sagte ich.
©A1 Verlag©
MÜNCHEN (BLK) – Im A1 Verlag erschien 2008 Thomas Kings Roman „Medicine River“.
Klappentext: In seinem Roman „Medicine River" porträtiert Thomas King mit einzigartigem Humor und voller subtiler Wahrheiten das Leben in einer Kleinstadt nahe einem Blackfoot-Reservat im Westen Kanadas. Das Buch erhielt mehrere Auszeichnungen und stand auf der Shortlist des Commonwealth Writers' Prize. Will, ein Fotograf aus Toronto, kehrt in seine Heimatstadt Medicine River zurück, um an der Beerdigung seiner Mutter teilzunehmen. Eigentlich soll es nur ein kurzer Aufenthalt werden, doch Will hat die Rechnung ohne seinen Freund Harlen Bigbear gemacht. Harlen, ständig darum bemüht, das Leben von Nachbarn und Freunde zu regeln, versucht ihn von der Idee zu überzeugen, ganz nach Medicine River zurückzukehren und als einziger Native-Fotograf ein Studio zu eröffnen. Will aber fühlt sich von seinen Wurzeln, der Familie und den Freunden entfremdet. Doch Harlen findet auf alles eine Antwort, und schon bald spielt Will im örtlichen All-Native-Basketball-Team und lernt die schwangere, unverheiratete Louise Heavyman kennen. Jenseits von Ethno-Romantik oder aufgesetzter Sozialkritik schreibt King mit einer guten Dosis Humor über das Alltagsleben der Native Americans im Nordamerika von heute, über gebrochene Biographien, menschliche Schwächen, Freundschaft, Liebe und Tod.
Thomas King, 1943 als Sohn eines Cherokee und einer griechischstämmigen Mutter geboren, wuchs in Kalifornien auf, studierte englische Literatur an der Universität von Utah und arbeitete als Photojournalist in Australien und Neuseeland. Er ist Autor von Romanen, Kurzgeschichten und Kinderbüchern und entwickelte Radioshow „The Dead Dog Café Comedy Hour“ des Rundfunksenders CBC. Seine Werke wurden vielfach ausgezeichnet. Heute lehrt er als Professor für englische Literatur und Creative Writing an der Universität von Guelph/Ontario.
Leseprobe:
©A1 Verlag©
Thomas King
Medicine River
Louise wurde immer dicker und in mir erwachte das Bedürfnis, sie zu beschützen. Ich begann, ihr die Autotür aufzuhalten. Ich hakte sie unter, wenn wir eine vereiste Straße überqueren mussten. Eines Tages nahm Louise nach einem gemeinsamen Abendessen meine Hand und legte sie auf ihren Bauch. „Hier, Will", sagte sie. „Du kannst ihre Tritte fühlen." Ich wollte nur helfen, so wie Harlen immer sagte. Ich half ihr aufzupassen, was sie aß. Ich half ihr ein bisschen bei der Namenssuche. „Wie wäre es mit Wilma?", meinte Louise. „Ich hatte eine Großmutter, die Wilma hieß." „O Gott, bloß nicht." „Jamie?" „Nein." „Elizabeth?" „Vielleicht." „Sarah?" „Geht so." „Will, du bist mir wirklich eine große Hilfe." Wir wurden nie ein Liebespaar. Der richtige Zeitpunkt dafür schien einfach nicht zu kommen. Wir waren Freunde. Es war schön, mit Louise zusammen zu sein, aber gleichzeitig war zwischen uns eine gewisse Distanz und Louise erhielt sie aufrecht. Ich dachte, dass es etwas mit Harold zu tun haben müsse. In der Nacht, in der Louise anrief, hatte ich fest geschlafen. „Will, ich muss ins Krankenhaus. Ich weiß nicht, ob ich selbst fahren kann. Würdest du mich hinbringen?" Es dauerte über eine Stunde, bis die Anmeldeformalitäten erledigt waren. Louise musste immer wieder eine Pause machen, sich bücken und tief durchatmen. Schließlich brachten sie sie in ein Zimmer und ein Arzt untersuchte sie, während ich draußen wartete. „Der Muttermund ist nur vier Zentimeter weit geöffnet, Will. Vermutlich kommt das Baby nicht vor morgen früh. Vielen Dank, dass du mich hergefahren hast, und überhaupt für alles. Ich sage ihnen, dass sie dich anrufen, wenn sie da ist." „Ich habe gerade nichts Besseres vor. Warten macht mir nichts aus. Vielleicht ist es ein Junge und dann könntest du etwas Hilfe wegen des Namens brauchen." „Das hat doch keinen Sinn, Will, es dauert zu lange. Du hast noch was anderes zu tun." „Vielleicht warte ich einfach trotzdem. Für alle Fälle." „Ich habe hier alles, was ich brauche." Das Wartezimmer war klein und hatte keine Fenster. An der Wand hing ein großes Schild, das das Rauchen verbot, und auf dem Sofa saß ein Typ im Anzug und rauchte. Ich ging zum anderen Sofa, wedelte mit meinem Arm herum, hustete ein paar Mal und sah demonstrativ zu dem Schild hinüber. „Dieses Kinderkriegen dauert ganz schön lange", sagte er. „Ich bin schon seit drei Stunden da." „Ich glaube, das ist ein Nichtraucherzimmer", sagte ich. „Die lassen einen einfach hier sitzen. Einmal ist die Schwester vorbeigekommen und hat gesagt, dass es meiner Frau gut geht. Heutzutage wollen sie, dass man mit in den Kreißsaal kommt, aber was soll ich da? Etwa das Kind auffangen?" Der Mann lachte, trat seine Zigarette auf dem Fußboden aus und schüttelte die nächste aus der Packung. „Es macht Ihnen doch nichts aus, oder?" Ich sagte, dass es mir etwas ausmache und er steckte die Zigarette zurück in die Packung. Wir saßen einander gegenüber und starrten die Wände an. Nach einer Weile stand er auf und meinte: „Unser Arzt fand, es wäre besser, das Baby mit einem Kaiserschnitt zu holen, aber Karen regte sich darüber nur auf. Wie heißt Ihre Frau?" „Ich bin nicht verheiratet." „Ach ... ach so, ja. Wissen Sie was? Ich laufe ein bisschen herum. Vielleicht hole ich mir irgendwo einen Kaffee. Wenn die Schwester kommt, dann sagen Sie ihr bitte, dass ich bald wieder zurück bin. Und wenn sie einen Kaiserschnitt machen wollen ... auch gut, dann sollen sie mich eben anpiepen, oder? Manchmal haben sie ja keine Wahl, oder? Ich meine, die machen so was doch ständig. Ich hatte ihr gesagt, dass das schon in Ordnung wäre." Die ersten vier Stunden waren gar nicht so schlimm. Irgendjemand hatte unter dem Zeitschriftenstapel einen alten Nero-Wolfe-Krimi liegen lassen. Ich hatte ihn schon mal gelesen, aber vergessen, wer der Mörder war. Der Typ mit der Zigarette kam nie wieder zurück. Nach sechs Stunden erwischte ich eine Schwester, die gerade aus der Entbindungsstation kam, und fragte sie nach Louise. „Was tun Sie denn hier?" „Ich dachte, ich warte." „Ich wette, Ihre Frau hätte sie gerne an ihrer Seite. Sie könnten sehr viel für sie tun." „Ja, klar." „Im Wartezimmer herumzusitzen ist ziemlich altmodisch. Die meisten Männer sind gerne dabei, wenn ihre Ehefrauen entbinden. Ist das Ihr Erstes?" „Äh ... ja." „Gehen Sie einfach den Gang runter. Erste Tür rechts." Die Entbindungsstation lag im südlichen Teil des Krankenhauses. Über der Doppeltür war in großen Buchstaben „South Wing", Südflügel, zu lesen. Ich trieb mich einige Minuten lang im Gang herum und dachte darüber nach, ob ich zu ihr gehen und Hallo sagen sollte. Eine der Türen stand ein Stück weit offen. Ich lehnte mich dagegen und schlüpfte in den Gang, gerade als eine weitere Schwester aus einem Zimmer kam. „Kann ich Ihnen helfen?" Ich hatte keine Zeit, mir eine glaubwürdige Lüge zu überlegen. „Sie ist hier irgendwo ... Mrs. Heavyman ... Louise." „Sind Sie Ihr Mann?" „Ja, sicher ... Ich meine ... Ich bin ein Freund, irgendwie ..." „Freunde und Bekannte müssen draußen warten." Ich las den Roman zu Ende, saß auf dem Sofa und sah den Ärzten und Schwestern zu, die in Zimmer hineingingen und sie wieder verließen. Ich weiß nicht, wie spät es war, als mich die Schwester weckte. „Mr. Heavyman, Mr. Heavyman! Ihre Frau ist jetzt in der Austreibungsphase. Es dürfte nicht mehr lange dauern." Sie lächelte mich an, schüttelte dann den Kopf und ging, bevor ich Zeit gehabt hätte, etwas zu erklären. Die Cafeteria war geschlossen. Ich musste mir meinen Kaffee aus einem Automaten holen. Ich trank zwei Schlucke und schüttete den Rest weg. Ich ging ins Wartezimmer zurück und wartete. Ich begann, über Louise nachzudenken und zum ersten Mal, seit ich nach Medicine River zurückgekehrt war, fühlte ich mich gut. Klar und stark. Vielleicht konnten wir es versuchen, wir mit dem Baby, und so. Ich dachte noch darüber nach, als Harlen und Floyd und Elwood und Jack Powless hereinkamen. „Ich hatte dir gesagt, dass er hier sein würde, Floyd", sagte Harlen. „Du schuldest mir ein Bier." Harlen, Floyd und Elwood setzten sich mir gegenüber auf das Sofa. Jack breitete sich auf meinem Sofa aus. „Was macht ihr denn hier?" Ich versuchte, nicht unfreundlich zu klingen. „Wir wollten nur nach Louise schauen. Wie geht es ihr?" „Es geht ihr gut. Die Schwester meint, es kann noch acht bis neun Stunden dauern. Es macht für euch keinen Sinn, hier zu warten. Ich glaube, ich gehe auch bald wieder." Harlen machte es sich auf dem Sofa gemütlich. Keiner von ihnen sah aus, als wollte er irgendwohin gehen. „Verdammt, Will", sagte Floyd. „Wie fühlt es sich an, Vater zu sein?" Elwood brüllte vor Lachen und schlug Floyd auf die Schulter. Floyd beugte sich vor und tätschelte mein Knie. Harlen ließ sich noch tiefer ins Sofa sinken. Wir saßen alle herum und taten, als würden wir lesen, als die Schwester wiederkam. „Mr. Heavyman?" „Das ist er", erklärte Elwood, ließ die Zeitschrift fallen und verbarg das Gesicht in seinen Händen, damit die Schwester nicht sah, dass er lachte. „Ihre Frau hat soeben eine Tochter geboren. Wir machen sie sauber und wiegen sie, und dann können Sie zum Säuglingszimmer kommen und sie sich ansehen. Ihre Frau hatte ein paar kleinere Komplikationen, aber es geht ihr gut. Sie ist nur müde. Sie können bald zu ihr. Machen Sie sich keine Sorgen, es geht ihr gut." Sobald die Schwester den Raum verlassen hatte, brach die lärmende Hölle los. Floyd und Elwood sprangen auf, tanzten herum, klopften einander abwechselnd auf den Rücken, schüttelten mir immer wieder die Hand und sagten Sachen wie: „Es ist ein Mädchen, Mr. Heavyman" und: „Ihrer Frau geht es gut, Mr. Heavyman", und: „Sie können gleich Ihre Tochter sehen, Mr. Heavyman." Sogar Jack Powless, der nur selten etwas sagte, schüttelte mir die Hand und meinte, Kinder seien wunderbar und ein Segen. Zwanzig Minuten lang musste ich mit vier grinsenden Arschlöchern herumsitzen. Dann kam eine Krankenschwester und rettete mich. „Sie können jetzt zu Ihrer Tochter, Mr. Heavyman." Auf diese Worte hin fielen Elwood und Floyd einander um den Hals. „Sie ist ein großes Mädchen", sagte die Schwester, „Drei Kilo und achthundertsiebenundzwanzig Gramm." Bevor ich sie halten durfte, musste ich einen Kittel anziehen. Sie war in eine Decke eingewickelt, und nur das Gesicht und die Augen schauten heraus. Ich hatte gedacht, die Augen würden geschlossen sein wie bei einem Welpen oder einem Kätzchen, doch das waren sie nicht. Sie waren offen und die Kleine schaute mich an. „Ich wette, dass Sie schon einen schönen Namen für sie ausgesucht haben." Durch die Glasscheibe konnte ich das große Schild über der Entbindungsstation sehen. „Ja", sagte ich und fühlte mich großartig mit dem Baby in meinen Armen. „Wir werden sie vermutlich South Wing nennen." Ich nehme an, dass ich glaubte, die Schwester dadurch zum Lachen zu bringen, aber sie lachte nicht. „Ist das ein traditioneller indianischer Name?" „Ich habe nur Spaß gemacht." „Nein, ich finde den Namen sehr schön." Das kleine Mädchen sah mich immer noch an und ich blieb einfach in dem Schaukelstuhl im Säuglingszimmer sitzen. Ich wäre auch noch länger dort geblieben, wenn nicht die Schwester gekommen wäre und mir gesagt hätte, dass meine Frau jetzt wach sei und das Baby sehen wolle. „Nur eine Sekunde", sagte die Schwester. „Wir legen sie in ein Bettchen und Sie können sie mit hinübernehmen." Ich hatte nicht mehr an Floyd, Elwood, Jack Powless und Harlen gedacht. Als ich das Bettchen den Flur hinunterschob, schaute ich ins Wartezimmer, doch es war leer. South Wing war immer noch wach, mit weit aufgerissenen Augen. Ich dachte über Louise nach und darüber, dass sie niemanden hatte, dass ihre Familie böse auf sie war und alle Freunde sie verleugneten. Vielleicht sah es gar nicht so schlecht aus, dachte ich. Vielleicht könnte es klappen.
Manchmal frage ich mich, warum ich Harlen überhaupt noch zuhöre. Louise war in 325 C. Dort waren auch ihre Mutter und ihr Vater, zwei ihrer Brüder und alle ihre Schwestern, drei Tanten, einige Leute, die ich nicht kannte sowie Harlen, Floyd, Elwood und Jack Powless, der sich zwischen irgendwelche Stühle und den Heizkörper gequetscht hatte. „Hey, Will", sagte Louises Vater, „was machst du denn hier? Ach, du hast ja meine kleine Enkelin. Junge, ist die winzig!" Louise hatte sich im Bett aufgesetzt, aber sie fühlte sich nicht wohl und ließ es auch bleiben, so zu tun, als ob es ihr gut ginge. „Hier", sagte Louises Mutter, „lass Louise das Baby halten und wir machen ein Foto. Beeil dich, Carter, denn das Baby braucht jetzt viel Schlaf und viel zu essen. Komm, Will, gibt sie mir." Carter Heavyman holte seine Instamatic heraus. „Hey, Will, du hättest eine von deinen Kameras mitbringen sollen." Er sah zu mir herüber und lächelte. „Wo hast du den Kittel her?" Carter machte das Foto und alle drängelten sich um das Bett, um das Baby zu sehen. Auf die Karte am Stubenwagen hatte die Schwester „South Wing Heavyman" geschrieben. Niemand sah mich rausgehen. Ich verließ das Krankenhaus in der Absicht, im Dunkeln spazieren zu gehen und mir die Sterne anzuschauen, doch es stellte sich heraus, dass es zehn Uhr morgens war. Die Sonne stand hoch und es war heiß. Ich fuhr bei Woodward's vorbei und kaufte einen Stoffpinguin für das Baby. Den Rest des Tages verschlief ich. Am Abend nahm ich den Pinguin mit ins Krankenhaus. „Ich freue mich, dass du vorbeikommst, Will. Heute Morgen ging es hier zu wie im Irrenhaus. Mom musste Dad hinausschleifen, damit ich mich ein bisschen ausruhen konnte." „Ich habe das hier für das Baby gekauft." „Sie heißt Wilma, Will. Sie ist jetzt unten im Säuglingszimmer, aber wenn du willst, kannst du sie besuchen. Die Schwestern halten dich für meinen Mann. Wo hast du nur den Namen South Wing her?" „Es sollte ein Witz sein." „Dad gefiel er sehr gut." „Wilma ist besser." „Sie ist wunderschön, nicht wahr, Will? Sobald sich alles etwas eingespielt hat, koche ich uns ein Abendessen. Vielleicht können wir auch mal ins Kino gehen, oder so" „Klar." „Du verstehst das doch, Will, nicht wahr?" „Klar." Das Säuglingszimmer wirkte hell und lebendig. Einige Babys waren wach und schrien. In der Ecke saß eine Mutter im Schaukelstuhl und stillte ihr Kind. Die große Glasscheibe war hart und kühl, und ich lehnte mein Gesicht dagegen und sah South Wing beim Schlafen zu. Die Schwester am Arbeitspult lächelte mich an und kam zu mir herüber. „Das muss Ihr Erstes sein", meinte sie. „Welches ist es denn?" Harlen und die anderen waren beim Basketballtraining und Mr. und Mrs. Heavyman waren vermutlich ins Reservat zurückgekehrt. Louise war in ihrem Zimmer. South Wing lag in ihrem Bettchen, eingewickelt in eine rosafarbene Decke. Ich blickte mich auf dem Flur um. Die Luft war rein. „Das da", sagte ich.
©A1 Verlag©
Literaturangaben:
KING, THOMAS: Medicine River. Aus dem Englischen von Cornelia Panzacchi. A1 Verlag, München 2008. 264 S., 19,00 €.
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