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Rückschau: Ernst Ludwig Kirchner

Berliner Ausstellungen anlässlich seines 70. Todestages

© Die Berliner Literaturkritik, 15.01.09

 

Ernst Ludwig Kirchner, der sensibelste und zugleich eigenwilligste der „Brücke“-Künstler, hat sich primär als Zeichner verstanden: 165 Skizzenbücher haben sich allein im Kirchner-Nachlass erhalten, und in privaten wie öffentlichen Sammlungen sollen sich etwa 10 000 Zeichnungen, Aquarelle und Pastelle befinden. Sie dienten nicht nur als Studien und Skizzen für Gemälde, Druckgrafik wie auch Plastik, sondern besitzen durchaus autonomen Bildcharakter und gehören zum Besten, was im 20. Jahrhundert hervorgebracht wurde.

Das Berliner Brücke Museum präsentierte anlässlich des 70. Todestages des 1938 im Schweizer Exil aus dem Leben geschiedenen Künstlers unter dem Titel „Meisterblätter“ 100 der schönsten Zeichnungen von 1906 bis 1937 aus seinem Kirchner-Bestand. Auf Aquarelle wurde verzichtet. Fortgesetzt wurde dann diese Ausstellung im Rahmen des Kirchner-Jubiläums durch „Farbige Druckgraphik“ und „Kirchner in Berlin“. Allein 230 Kirchner-Blätter nennt das Brücke Museum sein Eigen. 1999 konnte die Sammlung Karlheinz Gabler mit 118 exquisiten Blättern erworben werden und zum Auftakt dieser Ausstellung überreichte Günther Ketterer namens der Roman-Norbert-Ketterer-Stiftung sechs Zeichnungen aus der Schweizer Zeit dem Museum als Geschenk. Das unterstreicht den Rang des Brücke Museums, dessen Kirchner-Bestand der umfangreichste aller öffentlichen Sammlungen ist und sogar noch vor dem des Davoser Kirchner-Museums zu nennen ist.

Zeichnerische Meisterblätter

Der Katalog zur Ausstellung der „Meisterblätter“, herausgegeben von Magdalena M. Moeller, der Direktorin des Brücke Museums, enthält Aufsätze zu Kirchners Zeichnungen (Magdalena M. Moeller), zum Zeichner Kirchner (Wolfgang Henze), zu Kirchners Selbstbildnissen (Katharina Henkel), zu Kirchners Interieurzeichnung an der Schnittstelle zwischen Kunsthandwerk, Fotografie und Malerei (Hanna Strzoda) und die Abbildungen aller in der Ausstellung gezeigten Werke nebst Biografie, Ausstellungsverzeichnis und Literaturhinweisen. Die ausgestellten Arbeiten aus den drei Lebensstationen Dresden, Berlin und Davos zeigen Akte im Atelier und in freier Natur sowie intime Paare, Tanzszenen und Tänzer, dazu eine große Zahl nahezu abstrakter Bewegungsstudien, exotische Menschen der Völkerschauen, Reise-Impressionen, Landschaften und Interieurs, Stadtlandschaften und Vorortstraßen, Strand- und Straßenszenen, Zirkus und Varieté, Theater und Konzertcafé, schließlich Bewohner und Landschaften der Schweizer Bergwelt.

Unter den zahlreichen Bildnissen findet man Selbstbildnisse, die jungen Mädchen Fränzi und Marzella und der „Brücke“-Kollege Erich Heckel, Kirchners Lebensgefährtin Erna und deren Schwester Gerda, die beide Tänzerinnen waren, der Jenaer Archäologie-Professor Botho Graef, die Malerin Nele van de Velde, die Tochter des berühmten Architekten Henry van de Velde. Die stilistische Vielfalt der Zeichnungen ist verblüffend. Sie reicht von der für die Dresdener Jahre typischen, kompakten Fülle der Strichlagen, dem zumeist mit Tuschfeder erzeugten neoimpressionistischen Duktus mit starken Hell-Dunkel-Wirkungen über eine stärkere Linearität zunächst mit weichen und dann mit harten, kantigen Formen bis zur knappen, straffen Sprache und zu den schon Schraffuren enthaltenen Konturen der Berliner Zeit.

Als das beherrschende kompositorische Prinzip erscheinen hier Kontrast und Spannung in der Abfolge von Hell und Dunkel, von Hoch- und Querformat, Kompaktem und Fragilem, Akten und bekleideten Personen, Gruppen und Einzelfiguren, Landschaft und Interieur, detailreich ausformulierten Ansichten und knappen, nahezu abstrakten Bewegungsstudien. Dieses Reservoir an Zeichnungen hat Kirchner wohl als „Form- und Ideenspeicher“ gedient, es sollte ihm die thematische Breite und gestalterische Vitalität vergegenwärtigen, ihn immer wieder zum „Neuschaffen früherer Erlebnisse“ anregen.

Dresdener Stadtlandschaften und weibliche Akte stehen am Anfang einer langen Reihe von Zeichnungen aus der Dresdener Zeit. Die Mädchenkörper haben weich fließende Konturen, sind besonders flächig gezeichnet. 1909 werden sie immer strenger in der Kontur, die durchlaufende Linie wird disziplinierter. Im „Hockenden Mädchenakt“ von 1909/10 wird der einzelne Strich kräftig und schnell gesetzt, der durchgehende Linienfluss aufgegeben; die Zeichnung ist jetzt spröder, eckiger geworden. Bei den Dresdener Stadtmotiven interessierten Kirchner perspektivische Überschneidungen, räumliche Verschiebungen, Drauf- und Seitenansichten. Durch eine vehemente Linienführung wollte er den Betrachter suggestiv ins Bild einbeziehen.

Tanz- und Varietészenen vom Winter 1910 in rhythmischem Stakkato deuten dann schon die nervöse Hektik der Großstadtszenen an, die Kirchner nach der Übersiedlung nach Berlin (1911) schuf. „Straßenszene“ (1913/14), „Straßenszene mit grüner Dame“ (1914), „Potsdamer Platz“ (1914) mit ihren ausschnitthaften Darstellungen lassen das Verhältnis von Einzelfigur und anonymer Masse hervortreten, vermitteln aber auch Atmosphärisches aus dem Halbweltmilieu. Die Linie ist mit Energie und Dynamik, geradezu mit Elektrizität geladen. Die gesamte Fläche wird in die Gestaltung einbezogen und lebt im Rhythmus der konzentrierten Strichlagen. Kirchner erfand 1910 Bildzeichen, summarische Strichgebilde, stieß zu immer schroffeneren Formen vor, gelangte vom weichen zum harten Stil.

1917 kam Kirchner krank und zerrüttet nach Davos. Der Zeichenstil der folgenden Zeit ist von höchster Nervosität und Bewegtheit geprägt. Auf das Porträt eines Almbewohners („Alter Bauer“, 1917) kann man die Worte Will Grohmanns, des Verfassers der ersten Kirchner-Monografie (1925) beziehen, dass die Physiognomie des Porträtierten eine „geradezu landschaftliche Verwitterung“ erreicht habe - voll expressiver Verinnerlichung. Mit kurzen, dichten, feinnervigen Schnitten wird ein „Blick unter die Haut“, ins Innerste der Psyche suggeriert. Im freien Spiel der Farben und Formen dramatisiert Kirchner die Bergwelt als rhythmisch schwingende Alpenkulisse („Tinzenhorn“, 1919). In den 1921 wieder auflebenden Akten in freier Natur drückt der faserige Kontur das Tänzerische der Bewegung aus. Ende der Zwanzigerjahre nehmen abstrakte Tendenzen zu. „Wigman-Tanz“ (1932/33) vereinigt mehrere zeitliche Bewegungsphasen und räumliche Ansichten in einem Bild.

Meine Form entsteht so, dass ich in der Ekstase des Erlebens in der Skizze neue Formgestalt finde, die im Bild kristallisiert und fest wird“, notierte Kirchner 1928 in sein Davoser Tagebuch. Diese feste Form nannte er „Hieroglyphen“, von der Naturform abstrahierte Kunstformen. Während vorher die Ekstase vor dem Objekt das auslösende Moment für das Zeichnen war, sollte jetzt die aus der Fantasie gezeichnete Linie nachträglich mit Ekstase aufgeladen werden. Aber das vitale Welterleben der früheren Zeichnungen hat er nicht mehr erreicht. Dennoch bleibt er – da ist sich die Kirchner-Forschung einig – der wohl bedeutendste Zeichner der Moderne.

Faszination Farbe

Die Farbdrucke sind virtuose Höhepunkte im Werk Kirchners – im Vergleich und in der Zusammenschau. 145 Meisterwerke farbiger Druckgrafik (Holzschnitte, Lithografien, Radierungen) stellte das Brücke Museum Berlin in seiner Kirchner-Hommage anlässlich des 70. Todestages des Künstlers aus. Aus eigenem Besitz, aus öffentlichem wie privatem Besitz, aus schwer zugänglichen Quellen, handelt es sich um äußerst selten ausgestellte Blätter, die zudem nur in Unikaten oder wenigen Exemplaren existieren. Wenn man weiß, dass von seinen 2000 Druckgrafiken nur knapp 200 farbig gedruckt wurden, mitunter ein und dasselbe Motiv in mehreren Farbvarianten, dann kann man ermessen, wie unendlich schwer es gewesen war, eine solche spezialisierte Ausstellung zusammenzubringen. Sie wurde besorgt von Günther Gercken, der zugleich das demnächst erscheinende neue Werkverzeichnis der Druckgrafik Kirchners erarbeitet hat und der seine neuen Erkenntnisse des Druckverfahrens einzelner Blätter, der Umdatierungen oder der Neuaufteilung von Zuständen in die Ausstellung und den Katalog mit einbringen konnte.

Was macht die farbigen Drucke Kirchners so einzigartig? Günther Gercken gibt dazu in einem wegweisenden Katalogbeitrag eine erschöpfende Auskunft. Der homogene Farbauftrag und die Begrenzung auf wenige Farben betonen die Flächigkeit der miteinander verschränkten Formen und bringen die Farben zu einem wunderbaren Leuchten. Kirchner hat nicht nur die Druckplatten geschnitten oder geätzt, sondern die wenigen Exemplare seiner Grafik selbst als Reiberdrucke oder mit seiner eigenen Druckpresse gedruckt. Die Abzüge hat er von Druck zu Druck variiert, sodass eigentlich alle Exemplare Unikate sind.

Die farbgrafischen Arbeiten sind chronologisch geordnet, immer wieder unterbrochen von Themen oder Techniken, in denen die Farbvarianten in besonderen Beispielen vergleichend gezeigt werden, von den nicht gerade das Genie verratenen Anfängen (im Unterschied zu Schmidt-Rottluff und Heckel) bis zu den absoluten, auch drucktechnisch immer mehr vollkommenen Meisterwerken der späten Dresdener, der Berliner und frühen Schweizer Zeit. Der flächenhafte Stil der „Brücke“ erreichte in Kirchners Grafik seinen Höhepunkt. Schon seine frühen, streng linearen Holzschnitte haben die Tendenz, das Holz in seiner Struktur stärker und unmittelbarer in die Bildwirkung einzubeziehen.

Der Ausdruckswert des Ursprünglichen war dem Künstler wichtig. In seinen Bildnissen und Selbstbildnissen ist die Hintergrundsfigur als symbolhaft oder biografisch zu verstehender Verweis zur Person des Dargestellten ein häufiges Motiv. Neben dem Selbstporträt (etwa die Kaltnadelradierung „Selbstbildnis mit Pfeife“, 1908) steht der Akt als Sinnbild für einen inneren Konflikt. Seinen „Akt mit schwarzem Hut“ (Holzschnitt, 1912) nach dem berühmten gleichnamigen Gemälde von 1910, die Darstellung seiner Dresdener Freundin vor den selbst gemalten Wandbehängen seines Dresdener Ateliers, hat Kirchner immer wieder als Verkörperung seines weiblichen Schönheitsideals bezeichnet. An die Stelle seines Vorbildes, Lucas Cranachs „Venus“, tritt hier eine wirkliche, lebendige Frau mit erotischer Ausstrahlung.

Auch in Berlin suchte Kirchner seit 1909 das Milieu von Zirkus und Varieté. Die Holzschnitte zeigen jetzt eine stark rhythmisierte Bildfläche. Die Frauenkörper haben jede weiche Sinnenhaftigkeit verloren, sie wirken unbeweglich, statuenhaft vereinzelt. – der Betrachter wird gleichsam in die Rolle der fehlenden männlichen Personen versetzt („Fünf Kokotten“, 1913/14). In den Radierungen von Berliner Straßenszenen kommt die nervöse Hektik der Situation in den engen, sich oft überdeckenden Strichlagen zum Ausdruck.

Lebensgleichnisse“ zu schaffen, hat Kirchner als seine Aufgabe bezeichnet. Von der frühen Holzschnittfolge „Zwei Menschen“ (1905) über die zu Chamissos „Peter Schlemihl“ bis zur Erzählung von Absalom aus dem Alten Testament will der Künstler über sein eigenes Schicksal reflektieren. Das „Selbstbildnis mit Zigarette“ (1915) mit selbstbewusster Haltung wird von dem „Selbstbildnis zeichnend“ (1916), nach Kirchner „in einer Nacht entstanden, wo sich das Bewusstsein halb aufgelöst hatte“, und dem „Selbstporträt mit tanzendem Tod“ (1918) voll „tiefer Traurigkeit“, die sich durch die Arbeit lösen sollte, abgelöst. Als er sich in der Schweiz von dem körperlichen Zusammenbruch, den er in den Kriegsjahren erlitten hatte, erholte, erlebte Kirchner in intensivster Weise die eindrucksvolle Natur der Schweizer Berge. Er hat Farbholzschnitte von mehreren Stöcken in unterschiedlichen Farbzusammenstellungen gedruckt. Dadurch ist jedes Blatt letztlich ein individuelles Einzelstück geworden.

Die Kokotten im Steinmeer von Berlin

Im Oktober 1911 siedelte Kirchner von Dresden nach Berlin über, das er schon vorher mehrfach besucht hatte. Zusammen mit Max Pechstein gründete er eine Malschule, der allerdings der Erfolg versagt blieb. Er knüpfte enge Kontakte mit avantgardistischen Dichterkreisen, setzte sich in ganzen Werkgruppen mit der Großstadt, ihrer Faszination, Bedrückung und Gefährdung auseinander. Ein Stilwandel vollzog sich bei ihm: Hart und scharf werden jetzt die Pinselstriche gesetzt, dichte Schraffuren entstehen, die Formen verkürzen und verzerren sich, die Bildelemente erscheinen stark rhythmisiert, irritierende Perspektiven werden eröffnet.

Kirchner fand hier in Berlin seinen von der „Brücke“ losgelösten Stil, er malte Stadtlandschaften, Tänzerinnen, Varieté-, Zirkus- und Bordellszenen. Den Sommer verbrachte er mit seiner Lebensgefährtin Erna Schilling und deren Schwester Gerda auf der Ostsee-Insel Fehmarn. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges durchlitt er eine qualvolle Militärzeit. Eine schwere Nervenkrise zwang ihn zu Sanatoriumsaufenthalten, die ihn 1917 auch nach Davos führten, wo er dann auch seinen Wohnsitz nehmen sollte. In seiner Berliner Zeit aber hatte er seinen Stil perfektioniert und war zum bedeutendsten deutschen Expressionisten, zum außerordentlichen Gestalter der Großstadtpsyche geworden.

Zum Abschluss der Ausstellungs-Trilogie anlässlich des 70. Todestages Kirchners zeigt das Brücke Museum nach Kirchners „Meisterblättern“ und „Farbiger Druckgraphik“ noch bis 15. März 2009 „Kirchner in Berlin“: Seine Berliner Stadtlandschaften, die Atelierbilder, seine Darstellungen von Varieté und Tanz, von Modellen, Kokotten und Prostituierten, die Straßenszenen, Porträts und Freundschaftsbilder. Auch die früheren Berlin-Aufenthalte Kirchners und die Sommer-Aufenthalte auf Fehmarn 1912-1914 finden Berücksichtigung. Stand in den Akten vom Sommer 1911 an den Moritzburger Seen der Mensch in harmonischem Gleichklang mit der Natur, werden die Akte vom Fehmarn-Sommer 1913 als Teil der Natur dieser untergeordnet. Eine bizarr verzweigte Vegetation von zarter Farbigkeit im Vordergrund bindet die Komposition an die Fläche. Die Figuren verlieren sich fast darin.

Der von Magdalena M. Moeller herausgegebene Katalog enthält neben einem generellen Überblicksbeitrag der Herausgeberin Aufsätze von vorwiegend jungen Kunsthistorikerinnen zu einzelnen Themen, Motiven und Komplexen des Generalthemas. So über Kirchners frühe Berlin-Aufenthalte (Magdalena M. Moeller), das MUIM-Institut (Hanna Strzoda), Erna und Gerda Schilling (Magdalena Schlösser), Varieté und Tanz (Janina Dahlmanns), Kirchners Stadtlandschaften (Magdalena M. Moeller), Kirchners Beziehungen zu Alfred Döblin (Annette Blattmacher), den Einfluss fremder Kulturen auf Kirchner (Hanna Strzoda), die Freundschaftsbilder (Christiane Remm), Kirchners Chronik der „Brücke“ (Janina Dahlmanns), Modelle, Kokotten und Prostituierte (Janina Dahlmanns), den Ausbruch ins Paradies: Fehmarn (Janina Dahlmanns), Kirchners Straßenszenen (Magdalena M. Moeller) und Kirchners letzte Schaffensphase in Berlin (Magdalena M. Moeller).

Bereits seine Berliner Stadtlandschaften wie „Rotes Elisabethufer“, „Nollendorfplatz“ oder „Straße am Stadtpark Schöneberg, Innsbrucker Straße“ (alle 1912) übersteigern und verzerren die Form. Sie sind aus der Vogelperspektive erfasst und erscheinen doch ganz nah. Die Bildnisse seiner Lebensgefährtin Erna und deren Schwester Gerda, die ihm fast immer auch als Aktdarstellungen zur Verfügung standen, von Künstler- und Schriftstellerkollegen suchen die Formen zu vereinfachen, zu geometrisieren. Haltungen scheinen dabei Kirchner wichtiger als der psychologische Ausdruck gewesen zu sein. Andererseits sucht er in dem „Portrait Dr. Alfred Döblin“ (1912) durch Deformation, durch den Einsatz von Schraffuren und spitzen Formen das Wesen des Schriftstellers und Psychiaters zu erfassen.

Tanz- und Varietészenen vom Winter 1910 in rhythmischem Stakkato deuten schon die nervöse Hektik der Großstadtszenen an, die Kirchner nach der Übersiedlung nach Berlin schuf. Wie in einem „Tagebuch“, so hat Kirchner sein grafisches Schaffen selbst bezeichnet, erhalten wir bei seinen nächtlichen Streifzügen durch die Bars, Cafés, Restaurants und Bordelle Aufschluss über seine innere Auseinandersetzung und den Weg zu den berühmten „Straßenbildern“ ab 1913, die ja nichts anderes als Kokottenbilder sind. In den Zeichnungen und Gemälden ersteht – in knappste visuelle Zeichen umgesetzt - die Faszination, Dämonie und Bedrückung der Großstadt. Der locker natürlichen Erotik der Dresdener Atelier- und Varietébilder tritt jetzt die aggressive Erotik der Großstadtprostitution entgegen.

Beim „Paar im Zimmer“ (1912) handelt es sich offensichtlich um eine Bordellszene. Die Farbigkeit ist auf drei Töne - ohne leuchtende Komplementärkontraste - reduziert. Das Gemälde „Kranke Frau, Dame mit Hut“ (1913), für das ihm Erna als Modell diente, stellt eine Berliner Kokotte mit Federhut, ihrem typischen Kennzeichen, dar. Die kräftigen Farben des Hintergrundes steigern noch das kränkliche Aussehen der Frau. Ihr Blick, der am Betrachter vorbeigeht, weist nach innen auf die eigene psychische Situation. Auch „Sich kämmender Akt“ (1913) ist eine Kokotte, mag hier auch der sonst anwesende Freier fehlen. Diese Kokotten im Innenraum leiten über zu den „Straßenszenen“, die Kirchner in allen Techniken schuf und die einen Höhepunkt in seinem Werk darstellen.

Neben Zeichnungen und Grafiken werden – magisch aufleuchtend - zwei von den insgesamt elf Gemälden zu diesem Thema, „Die Straße“ (1913) und „Frauen auf der Straße“ (1915) mit ihren ausschnitthaften Darstellungen, präsentiert. Hierher hätte auch die „Berliner Straßenszene“ (1913) gehören müssen, aber sie ist ja vor zwei Jahren restituiert und dann sofort für 34 Millionen Dollar verauktioniert worden. Durch die spontane Bewegung des Pinsels sind Figuren und Straßengetriebe, die Verlassenheit des Einzelnen und die anonyme Menschenmenge gerade farblich eng miteinander verflochten. Die Figuren sind lang gedehnt, fast körperlos, die Gesichter von maskenhafter Härte, die formale Konstruktion von betonter Spitzwinkligkeit.

Die Deformation des Gegenständlichen durch die „verzerrte“ Perspektive suggeriert Bewegung, Unruhe. Stilistische Anklänge an den Futurismus sind hier im Prinzip der Simultaneität und der facettenhaften Auffächerung des Dargestellten deutlich zu spüren. Die Straßenbilder sind Sinnbilder der Flüchtigkeit der Existenz. Kirchner äußerte im dritten Kriegsjahr 1916: „Wie die Kokotten, die ich malte, ist man jetzt selbst. Hingewischt, beim nächsten Male weg.“

1915 malte Kirchner seine „metaphorische Autobiographie“ in dem Gemälde „Selbstbildnis als Soldat“: Das Gesicht ist zur Maske erstarrt, die rechte Hand nur noch ein blutiger Armstumpf – Zeichen für Kirchners physische und psychische Unfähigkeit zu malen.

Literaturangaben:
MOELLER, MAGDALENA M. (Hrsg.): Ernst Ludwig Kirchner: Meisterblätter. Zeichnungen aus dem Brücke Museum Berlin. Beiträge von Ulrich Luckhardt, Hanna Strzoda u. a. Hirmer Verlag, München 2008. 204 S., 22 €.
GERCKEN, GÜNTHER: Ernst Ludwig Kirchner. Farbige Druckgraphik. Hrsg. von Magdalena M. Moeller. Hirmer Verlag, München 2008. 208 S., 24 €.
MOELLER, MAGDALENA M. (Hrsg.): Ernst Ludwig Kirchner in Berlin. Katalog zur Ausstellung in Berlin, Brücke Museum. Hirmer Verlag, München 2008. 396 S., 26 €.

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