Von Holger Böthling
Schon wieder so ein Buch, das zu einer einfachen, autobiografischen Lesart verführt: Wie der Antiheld des Romans „Ruhestörung“, John Wilder, war auch dessen Schöpfer Richard Yates Alkoholiker, wurde wiederholt in die Psychiatrie eingeliefert und hielt sich zeitweise für die Inkarnation von Jesus Christus. 1992 soff Yates sich 66-jährig zu Tode – nachdem er längst in Vergessenheit geraten war. „Ruhestörung“ (Originaltitel: „Disturbing the Peace“) von 1975 war einer der vielen Versuche des Autors, nach dem großen Erfolg des Debüts „Zeiten des Aufruhrs“ (Originaltitel: „Revolutionary Road“, 1961) zu Lebzeiten ein Comeback zu starten. Es wurde ein großer Misserfolg. Selbst Stewart O’Nan, der die postume Renaissance seines Schriftstellerkollegen mit einem Artikel im Boston Review 1999 einläutete, nennt „Ruhestörung“ Yates’ „einziges schlechtes Buch“. Nun liegt „Ruhestörung“ erstmals in deutscher (von Anette Grube erstklassig besorgter) Übersetzung vor.
Einfach macht es einem dieser Roman wirklich nicht: Er ist vielleicht das dunkelste, schonungsloseste und selbstzerstörerischte Stück Prosa, das Yates je geschrieben hat. Und wie stets eine Reise an die Grenzen von Normativität und Normalität, eine intensive Geschichte der Verzweiflung und des Scheiterns. John Wilder, keine 36 Jahre alt und Anzeigenverkäufer beim American Scientist, erleidet einen Nervenzusammenbruch und kann eines Abends von einer Dienstreise nicht zu seiner Frau und dem zehnjährigen Sohn nach Hause kommen. Ein Freund klaubt den sturzbetrunkenen und übernächtigten Wilder in einer Bar auf und bringt ihn ins New Yorker Krankenhaus Bellevue, wo die Ärzte den renitenten Patienten kurzerhand in der geschlossenen Psychiatriestation wegsperren. Fünf Tage verbringt Wilder in dieser Anstalt zwischen psychisch Gestörten, bis er endlich – mit dem Versprechen, eine Therapie zu beginnen – entlassen wird.
Das alles erinnert zunächst an „Einer flog über das Kuckucksnest“. Und tatsächlich nutzt Yates die Szenerie, um auf den bekannten Stoff, dessen Verfilmung mit Jack Nicholson im Jahr der Veröffentlichung von „Ruhestörung“ in die Kinos kam, zu verweisen. Doktor Spivack, ein schizophrener, ehemals erfolgreicher Arzt und jetzt Insasse im Bellevue, spielt offenbar auf Doktor Spivey, den Chefarzt des Krankenhauses in „Einer flog über das Kuckucksnest“ an. Doch das war’s auch schon mit den Parallelen. Denn das Leben jenseits der Anstaltsmauern ist für Wilder ebenso unerträglich wie diesseits. Er leidet an seiner durch und durch mediokrenen Existenz: Er ist klein gewachsen, wasserscheu und hat eine Leseschwäche, deretwegen er das College verlassen musste. Er krankt an der eigenen Bedeutungslosigkeit, seinem dysfunktionalen Familienleben und der Banalität dieses kleinbürgerlichen, amerikanischen Daseins.
Psychotherapie und Treffen der Anonymen Alkoholiker können diesen Choleriker, Säufer und Frauenhelden nicht wieder geradebiegen. Die Wende scheint erst gekommen, als er die hübsche, junge Pamela zur Geliebten nimmt. Pamela ist nämlich nicht nur Tochter eines Millionärs, sondern teilt auch Wilders Leidenschaft für den Film. Der Jedermann Wilder lebt seit Jahren in der selbstbetrügerischen Gewissheit, zu Größerem, zum Filmemachen bestimmt zu sein. Wie dieser kleine, eitle Anzeigenverkäufer den Hollywood-Star Alan Ladd imitiert, gehört zu den vielen kleinen Sarkasmen, die Yates in „Ruhestörung“ zelebriert. Mit Pamela glaubt Wilder, seinen großen Traum verwirklichen zu können: Sie engagieren College-Freunde von Pamela und drehen „Bellevue“, einen Kunstkurzfilm über Wilders Erlebnisse in der geschlossenen Abteilung.
Doch Wilders Glück währt nur kurz. Er trinkt weiter exzessiv, hält sich in einer schizoiden Wahnvorstellung gar für Jesus und wird erneut in ein Krankenhaus eingeliefert. Ein Nebenbuhler – der ebenfalls alkoholkranke Schriftsteller Chester Pratt, ein weiteres Alter Ego Richard Yates’ – spannt ihm Pamela aus, „Bellevue“ wird nicht fertig gestellt. Als Wilder und Pamela sich später versöhnen und nach Hollywood aufbrechen, um den Filmstoff doch noch zu verkaufen, steuert die Tragödie schnurstracks auf ihr bitteres Finale zu: Ausgerechnet Chester Pratt wird das neue Drehbuch von „Bellevue“ schreiben. Er hat es im Gegensatz zu Wilder nicht nur geschafft, trocken zu werden, sondern spannt ihm auch noch ein zweites Mal die Geliebte aus. Wilders american dream ist geplatzt, er hat die Leere von dessen Verheißung nie begriffen und driftet nun endgültig in den Wahnsinn ab. Richard Yates führt uns das alles in einer grandiosen szenischen Erzählweise vor Augen, die wie gemacht fürs Kino erscheint. Seine Sprache ist wie stets klar und plastisch, dabei jedoch weniger einfühlsam, sondern brutaler, wilder als etwa in „Zeiten des Aufruhrs“. Der differenzierten Charakterzeichnung, die allerdings auf die Hauptfigur beschränkt bleibt, ist es zu verdanken, dass der Leser Wilders desperates Aufbegehren grundsätzlich durchaus nachvollziehen kann.
Ist „Ruhestörung“ also ein Fall von „Irre, wir behandeln die Falschen?“ Gewiss nicht. Der Antiheld ist kein Sympathieträger. Und wer Yates kennt, weiß, dass diese Geschichte kein gutes Ende nehmen kann. Unerbittlich und präzise verfolgt er den – ebenso selbstverschuldeten wie unvermeidlichen – Verfall seines Protagonisten; ein Sog aus narzisstischen Kränkungen und Alkoholexzessen bis zum finalen breakdown. Die Intervalle, in denen Yates die beklemmende Grundstimmung des Romans für Momente löst, werden im Verlaufe der Geschichte immer kürzer. Bald lauert nach jedem Umblättern neues Unheil, so dass der Leser am Ende fast froh darüber ist, wenn es endlich vorbei ist. Wie es mit John Wilder so weit kommen konnte? Yates enthält sich jedes Versuchs der Erklärung, der einfachen zumal. Das Ungewöhnliche an diesem Psychogramm ist gerade, dass es keinerlei therapeutischen Ansatz verfolgt. Die Ärzte sind die sprachlosesten Figuren im ganzen Roman. Nach über 300 Seiten „Ruhestörung“ bleibt so nur: Verstörung.
Literaturangabe:
YATES, RICHARD: Ruhestörung. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. 320 S., 19,95 €.
Weblink: Deutsche Verlags-Anstalt