Von Ulf Mauder
„Was für den Russen gut ist, ist für den Deutschen der Tod.“ Diese in Russland verbreitete Redensart wird gern zitiert, wenn sich Deutsche schwer tun mit Wodka-Exzessen, sibirischer Kälte und Schwitzkuren in der Banja, dem Dampfbad. Solche extremen Erlebnisse hat der in Augsburg geborene Moskau-Korrespondent Boris Reitschuster in herzerfrischende Kolumnen über den Wahnsinns-Alltag im größten Land der Erde gegossen. Sein neues Buch „Russki Extrem“ handelt nach den ernsteren Sachbüchern „Putins Demokratur“ (2006) sowie „Der neue Herr im Kreml?“ (2008) über Präsident Dmitri Medwedew davon, warum Russland trotz aller Härten liebenswert ist.
In dieser humorvollen Landeskunde erfahren Russland-Urlauber und Neuankömmlinge, worüber sie sich besser nicht aufregen sollten. Ob die grobe Unhöflichkeit der Moskauer, die korrupte Bürokratie und die abenteuerlichen Flugzeuge — Reitschuster hat in seinen über zehn Jahren in Russland einiges erlebt und wohl nur mit viel Geduld überlebt. „Die hohe Kunst des Russland-Verstehens ist es, die etwas andere Arbeitsmoral nicht als Ärgernis, sondern als Bereicherung aufzufassen“, lautet ein Ratschlag des 38-Jährigen. Der Deutsche lebe eben, um zu arbeiten, der Russe arbeite, um zu leben, lässt er seinen Fotografen und häufigen Begleiter Igor nicht nur einmal sagen.
Reitschusters sehr zugespitzte Geschichten kreisen immer wieder um die überfüllte Metro, Russlands schöne Frauen und die rücksichtslosen Autofahrer, die Fußgängern auch bei Grün und am Zebrastreifen keine Chance lassen. Zuweilen sieht es so aus, als ziehe der Journalist des Nachrichtenmagazins „Focus“ das Pech nur so an. Sein Fahrstuhl bleibt oft stecken, der Pizza-Lieferservice lässt ihn im Stich und im Flugzeug hoch über den Wolken erschrecken ihn Russen, die laut am Handy diskutieren. Das alles kommt sehr heiter daher, aber auch mit vielen Wiederholungen. Die krassesten Vorkommnisse erzählt er oft nur vom Hörensagen, wenn etwa Ärzte angeblich am Operationstisch für eine besonders schöne Operationsnaht einen Extra-Obolus verlangen. Einige Storys, die er vorher schon im Internet veröffentlicht hat, sind offenbar so oft von Mund zu Mund gegangen, dass sie bei aller menschlichen Übertreibungskraft unglaublich schauderhaft sind.
Aus erster Hand schildert Reitschuster die Gleichgültigkeit der Russen gegenüber Gesetzen und den Moskauer Alltag mit viel Lärm, teichgroßen Pfützen sowie Wasserschäden in Wohnungen. Der Leser erfährt auch, dass Familienbande über alles geht und Kinder als Heiligtum gelten, dass Emanzipation selbst von Frauen als Schimpfwort empfunden wird. „Russki Extrem“ ist aber auch der starke Hang zum Aberglauben und Übersinnlichen bis in höchste politische Ämter.
Zu den wenigen politischen Exkursen der Kolumnen gehört ein Erklärungsversuch, warum Regierungschef Wladimir Putin in seinem Land so beliebt ist. Schon als Kremlchef hatte er seinen Landsleuten unter anderem viele zusätzliche Feiertage beschert — und den Menschen in der Ex-Sowjetunion somit ihr Privatleben zurückgegeben. Reitschuster äußert aber auch Befürchtungen, dass Russland nach den liberalen Jahren unter Präsident Boris Jelzin durch den Ex-KGB-Offizier Putin wieder zu einem Überwachungsstaat werde. Reitschuster selbst sieht sich wegen seiner kritischen Haltung als bevorzugtes Ziel der Späher.
So wenig auch an den Hürden des russischen Alltags zu ändern ist, Reitschuster gibt — nicht ohne Selbstironie angesichts seiner vielen eigenen Missgeschicke — Tipps fürs Durchkommen. Und sei es nur ein gesunder Mutterfluch, um sich allen Ärger von der Seele zu schreien.
Literaturangabe:
REITSCHUSTER, BORIS: Russki Extrem. Wie ich lernte, Moskau zu lieben. Ullstein Buchverlag, Berlin 2009. 356 S., 14,90 €.
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