Von Bernward Loheide und Jürgen Ruf
Der Autor Rüdiger Safranski geht mit seinem Buch über „Goethe und Schiller. Geschichte einer Freundschaft“ demnächst auf Lesereise nach Südamerika. In einem Interview mit der Deutschen Presse-Agentur dpa beschreibt der aus Rottweil stammende und in Badenweiler wohnende Philosoph, warum die Klassiker heute noch Leser in aller Welt begeistern und warum Goethe sich im Wettstreit um den größeren Nachruhm gegen Schiller durchgesetzt hat.
Goethe und Schiller haben uns ihre Freundschaft in Briefen hinterlassen. Würden die beiden heute nicht mehr Briefe schreiben, sondern eher twittern, simsen oder mailen?
Safranski: „Der Brief macht heute wieder Karriere, gerade im Kontrast zum schnellen Mail-Verkehr. Die Chance des Briefes liegt in der Kultur der Abstände zwischen Abschicken und Ankommen. Das erhöht die Vorfreude und Spannung. Es führt zur Verlangsamung, Intensität und Achtsamkeit, auch beim Lesen. Man muss auch nicht sofort antworten. Goethe war sehr für das Bedachtvolle, Langsame, für den Biorhythmus. Er würde wohl auch heute noch den Brief pflegen. Die modernen Medienkommen dem Tratsch und Klatsch mehr entgegen dem waren Goethe und Schiller auch nicht ganz abgeneigt. Das Gerüchteküchenwesen gedieh ja vortrefflich im kleinen Weimar.“
Internet-User haben sich daran gewöhnt, kostenlos die Früchte der geistigen Arbeit anderer zu ernten. Sehen Sie darin sowie in der Ausbreitung von E-Books eine Gefahr?
Safranski: „Goethe selbst hat maßgeblich an der Einführung des Copyrights mitgewirkt, das heute in der Tat bedroht wird. Wenn man das geistige Eigentum nicht mehr schützt, dann kann man gleich jedes Eigentum abschaffen. Ich glaube, dass die universellen Interessen am Eigentum sich durchsetzen werden. Ein E-Book kann wie ein Hörbuch ein Weg zur Rückkehr zum klassischen Buch sein. Man hört gerne und wird dadurch angeregt, auch wieder zum Buch zu greifen. Einen Roman oder ein philosophisches Buch wird man ohnehin kaum als E-Book lesen.“
Goethe und Schiller haben über den schlechten literarischen Geschmack des Publikums gelästert. Ist der heute immer noch schlecht?
Safranski: „Deutschland hat den besten Buchmarkt der Welt. Wir haben die besten Verlage, die besten Buchhandlungen, wir haben große Autoren sowie ein sehr interessiertes und treues Publikum. Ein überdurchschnittlich hoher Anteil der Bevölkerung liest Bücher. Das liegt auch an Goethe und Schiller. Der kulturelle Ruck, der um 1800 durch Deutschland ging, war viel stärker als in anderen Ländern. Musik, Literatur und Philosophie bekamen ein ungeheures Prestige und nahmen den Platz ein, den zuvor die Religion innehatte – selbst bei denen, die selber gar nicht lesen.“
Heißt das, dass Kirche und Religion jetzt überflüssig sind?
Safranski: „Ich bin kein praktizierender Christ, meine aber, dass wir auch weiterhin eine innere Verbindung zu Spiritualität oder Transzendenz, wie immer wir das bezeichnen wollen, benötigen. Die katholische Kirche mit ihrem 2000-jährigen Elefantengedächtnis erinnert uns daran, dass wir die Transzendenz nicht ausblenden und dass wir nicht ganz zu Hause sind in der gedeuteten Welt. Wir brauchen Stille Brüter des Sakralen als noch nicht eingelöstes Versprechen. Unterschwellig ist heute an vielen Stellen ein religiöses Bedürfnis mit im Spiel. Nicht zuletzt bei der Moralbegründung. Die Grundrechte der Verfassung zum Beispiel präsentieren sich als eine Art säkularisiertes Tabu, das nicht umgestoßen werden kann. Die Beschwörung ökologischer Nachhaltigkeit spielt mit einer naturreligiösen Begründung der Moral. Auch an die Wissenschaft wird heute mit einer im übrigen sehr fragwürdigen religiösen Inbrunst geglaubt. Genau genommen haben wir keine Wissensgesellschaft sondern eine Gesellschaft von gläubigen Mitwissern.“
Der Missbrauchsskandal hat die katholische Kirche stark in Misskredit gebracht. Warum wurde der pädophile Umgang mit Kindern in der griechischen Antike gar nicht als Problem gesehen und erst seit einigen Jahren in immer mehr Ländern als Skandal aufgedeckt?
Safranski: „Jahrhundertelang herrschte nur die Perspektive der Männer. Erst spät kam die der Frauen hinzu. Und jetzt sind wir gerade Zeugen, wie die Bühne sich dreht und wir uns fragen: Was bedeutet das für die Kinder? Wir erleben eine erstaunliche Karriere der Opfer-Perspektive. Man hat dabei schon den Eindruck, dass die öffentliche Debatte sich stark auf die katholische Kirche konzentriert; da werden zum Teil auch alte Rechnungen beglichen. Aller Erwartung nach wird man pädophiles Handeln, wenn man vorbehaltlos recherchiert, in allen pädagogischen Bereichen finden, also genauso auch in normalen Schulen und Sportvereinen.“
Schiller hat die moralische Wirkung der Kunst hoch veranschlagt. Sind gebildete Menschen bessere Menschen? Dient Kunst der Selbstvervollkommnung?
Safranski: „Schillers Erwartungen an die Kunst waren sicher übertrieben. Wahr ist aber sein Satz ,Der Mensch ist dort ganz Mensch, wo er spielt’. Denn Zivilisation besteht auch daraus, die Ernstfälle des Lebens in Spiel zu verwandeln, zum Beispiel die echte Schlacht in eine Redeschlacht im Parlament. Kunst kann als Ersatz-Ritual entlastend sein, denken Sie an das ganze Gewaltproblem. So funktioniert ja letztlich auch das christliche Abendmahl. Aus dem Kannibalismus wird ein heiliges Spiel, eine Ersatzhandlung.“
Aber Literatur kann ja auch umgekehrt wie ein Horrorthriller und Killerspiel zur Gewalt anstacheln und abstumpfen, oder?
Safranski:„Ja, aber Bilder können das viel mehr. Die reine Wortgestalt stellt schon einen Filter dar. Mit Literatur wird man nicht unbedingt ein besserer Mensch, aber die Chancen steigen, dass sich Empathie entwickelt, dass man sich in andere hineinversetzen und hineinfühlen, sie verstehen kann. Die Karriere des Romans seit dem 18. Jahrhundert hat da sehr viel bewirkt an Multiperspektivität, Sensibilität und an eigener Teilnahme über den Nahbereich hinaus. Der Autor erzeugt Worte, aus denen der Leser eine Wirklichkeit gewinnt. So entwickelt sich die Einbildungskraft, die Fantasie. Das ist eine Anregung für das innere bildgebende Verfahren.“
Wer hat die Einbildungskraft der Leser mehr angeregt: Goethe oder Schiller? Wer wird weltweit mehr gelesen?
Safranski: „Schiller ist vor allem ein deutsches Phänomen geblieben, ein vom Gedanken und der Rhetorik lebender Autor. Als Sartre des 18. Jahrhunderts hat er immer auf einer Frequenz gespielt – auf der der Freiheit. Goethe liegt vor Schiller. Er ist der Weltweise, der wie kein anderer Liebesgefühle ausdrücken kann. Er hat sein Leben selbst zum Kunstwerk gemacht, in dem alle Kräfte zur Entfaltung kommen.“
Auch seine erotischen Kräfte, wie man weiß. War Goethe im Umgang mit Frauen ein Chauvinist?
Safranski: „Goethe war ein echter Frauentyp, charmant und erotisch, ein Liebling der Frauen. Sehr viele fühlten sich von ihm verstanden. Er war ins Verlieben verliebt, daher hat er sich auch mit 72 noch verliebt. Die meisten Frauen hat er zwar irgendwann enttäuscht, aber nicht traumatisiert. Für sie war er trotz der Enttäuschung der Höhepunkt ihres Lebens. In meinen Lesungen gehe ich darauf gerne ein und werde von den Zuhörern auch oft danach gefragt. Das interessiert sie – und mich auch. Ich versuche sie dann aber auch für sein Werk zu begeistern, nicht nur für sein Verhältnis zu Frauen.“
Schon seit neun Jahren moderieren Sie mit Peter Sloterdijk das „Philosophische Quartett“ im ZDF. Sind Sie ein Populärphilosoph?
Safranski: „In meiner Selbstsicht würde ich nicht sagen, dass ich popularisiere, sondern ich versuche so zu schreiben, dass ich es selbst verstehe. Ich möchte nicht pädagogisch die Leute irgendwo abholen, mich nicht an meine Leser heranschmeißen. Wenn man selber eine Leidenschaft für eine Figur entwickelt, dann steckt das schnell an.“