Von Stephanie Tölle
Sarah Kirschs gesammelte Prosa ist in der Deutschen Verlags-Anstalt erschienen und lädt zu einem Spaziergang durch erzählte Jahrzehnte: „Erzählungen aus der ersten Hälfte meines Landes“ aus den frühen Siebzigern sowie die Tagebuchstücke „Islandhoch“ aus dem Jahre 2002, „Tatarenhochzeit“ von 2003 und „Kommt der Schnee im Sturm geflogen“ von 2005.
Die Umschlagsgestaltung stammt von der Autorin selbst, die die Buchrücken in azur- und blassblaue Farben hüllt. Zwischen Blütenzauber und einigen Blättern könnte man meinen, die dunkelrote Sonne sei ins Meer gefallen.
Nicht bloß inhaltlich lässt die bunte Hülle auf das Buchinnere schließen, auch schriftstellerisch-handwerklich behält Sarah Kirsch den selbstbestimmten Tenor bei. Die Dichterin beobachtet urtümliche Bewegungsabläufe, die längst in Vergessenheit gerieten; Hier „schwimmen die Fische direkt auf den Teller“ und „werden Füße sortiert“. Thematisch bewältigt die Textsammlung einen biografischen Spagat. Denn von „La Pagerie“ (1980) bis zum Schneesturm (2005) durchwandelt sie wie gewohnt metaphorisch-worterfinderisch verschiedenste Landschaften, Lebensstationen und sogar politische Systeme.
Im idyllischen Dörfchen Limlingerode an der ehemaligen innerdeutschen Grenze wurde die Granddame der deutschen Gegenwartsliteratur geboren. Sie hat eine Weile in Halle/Saale gelebt, dann in Ost-Berlin, ab 1977 im Westteil der Stadt. 1983 zog es Sarah Kirsch an die Küste, ins Friesische. Doch von besonders frühen Lebensjahrzehnten weiß diese Prosa kaum mehr etwas. Sie setzt im Zuge der vorliegenden Prosasammlungen mit dem Mündigwerden der Erzählerin ein. Die Tristesse der DDR-Kultur bereitet Unmut. Sehnsüchtig streifen ihre Blicke die von Biermann besungene Mühlendammbrücke in Berlin-Mitte oder das Blaue Wunder Dresdens und ahnen Vieles voraus.
Bald darauf reist sie erstmalig nach Südfrankreich. Sie lebt in einem verwunschenen Hotel, wo Camargue und Provence ineinander übergehen. Bezaubert von provenzalischem Licht und französischer Lebensart fängt die Troubadoura sämtliche Stimmungen ein und konserviert sie prosaisch. Die Dichterin besingt das Mystisch-Romantische, das ersehnte Traumland, das sie mit ihrem Begleiter durchstreift. Doch sie muss sich fragen, ob das der einzige Streifzug bleiben wird, den sie fern vom kleinen, ummauerten Mutterland unternehmen darf. Diese emotionale Anspannung, die Schönheit und Intensität von einst erreichen den Leser ungebremst, sobald der die „Gesammelte Prosa“ öffnet.
„Ein früher Zug brachte sie durch viele, gezählte Tunnel“ zurück in die DDR, wo andere Geschichten warteten.
Es dürfte wohl nicht am neuen Leben im rauen Norden gelegen haben, dass sich Sarah Kirsch von ihrer zarten, fast lyrischen Prosa entfernt hat. Mit harten Zahlen und Zeitungsmeldungen versucht sie irrsinniges Tagesgeschehen zu ordnen. Doch wie soll man Ungerechtigkeit und Unmenschlichkeit fassen? Die Prosa der Jahrtausendwende wirkt abgekühlt – und hält Schritt mit dem unwirtlichen Gesellschaftsklima.
Dagegen verjüngen Sequenzen aus dem Schulalltag des Enkels geradewegs das Dichterleben.
Es gibt sie noch, die Themen, die die Autorin zur alten Form zurückführen und Geschriebenes wie Gesagtes erklingen lassen. Es genügt ein Griff in den Bücherschrank, der tausend Erinnerungen freigibt.
Der Leser schließt sich ihrer Gedankenreise gern an und folgt der Dichterin durch Himmel, Nacht, Nebel, um „Styx“ gleich mehrfach zu überqueren.
Literaturangabe:
KIRSCH, SARAH: Gesammelte Prosa. DVA, München 2006. 736 S., geb. 20 €.
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