Von Stephanie Tölle
Thekla, Paula, Toula? Wer könnte das wohl sein? Natürlich, allesamt zählen sie zu Sarah Kirschs „Lämmerkens“ und grasen auf sattgrünen Weiden in der Nähe von Tielenhemme, im Kreis Dithmarschen. Wo das ist? Hoch oben im Norden, wo die Dichterin seit 1983 wohnt und Schafe züchtet.
Toula und Co., die „Lämmerkens“ von heute werden im nächsten Jahr wiederum kleine Lämmerkens gebären und diese im Jahr drauf abermals. Und Sarah Kirsch, die als Dichterin und Malerin im Schleswig-Holsteinischen lebt, führt über das Leben der Schafe in „Krähengeschwätz“ Buch. Unter anderem. Über drei Jahre, von 1985 bis 1987 schreibt sie Tagebuch und verfolgt dabei die Sprünge, Weidegänge und Geburten der Schafe. Sarah Kirsch genießt, so scheint es, ein Leben im Einklang mit der Natur.
Ihr Esel besucht sie sogar des Nächtens und erscheint ihr im Traum. Aber nur um ihr zu eröffnen, es lohne sich gar nicht Mensch zu sein. Und klammheimlich pflichtet die Dichterin dem Traumgespräch bei. Im Alltäglichen liegt das Besondere, im Detail das Außerordentliche. Vielleicht widmet die Dichterin deshalb die meisten ihrer Tagebucheinträge den Beschreibungen über Wiesen, Flur und „Lämmerkens“ Aussehen. Mal freut sie sich über ein schwarzes Lamm mit weißer Blässe, mal über ein Böckchen mit Schwarzkopf, leicht meliert. Treten Komplikationen bei der Geburt eines der Lämmer auf oder brennt gar der Strohschuppen des Nachbarn, dann ereignen sich die wahren Tragödien. Doch Sarah Kirsch betreibt mit ihrer Schafzucht keine Bagatellisierung der sonstigen Weltgeschehnisse. Sie tut auch nicht so, als ginge sie das alles nichts mehr an. Sie vermittelt vielmehr dem Leser einen Einblick in ihr stilles Landleben, das sie allem Anderen vorzog. Und doch, immer wieder fließen auch Erinnerungen ein, zuweilen politische.
So beginnen beispielsweise die Tagebucheinträge, die den 7. März 1985 datieren, mit einer recht politischen Rückschau. Sarah Kirsch erinnert sich an eine 1966 unternommene Rumänienreise, „voll in der Dubček-Aera“, wie sie sinniert. Damals, als sie auch eine Freundin in Prag besuchte, die dort Puppenspiel studierte. Neben dieser knapp einseitigen Erinnerung an das Jahr 1966 scheint sich am 7. März 1985 nichts ereignet zu haben. Doch ebenjenes Zurückdenken zeichnet das Tagebuch aus. Eine Mischung aus alles oder nichts. Die endlosen Weiten der schleswig-holsteinischen Wiesen vertragen sich gut mit den weit zurückreichenden Lebenserinnerungen der Dichterin. Beim Betrachten der Schafherde werden immer auch Erinnerungen wach. So gemahnen beispielsweise die Skudden inmitten der einheimischen Moorschnucken an die „Trecks Ende des Krieges“, denn diese brachten die Skudden erst aus Ostpreußen ins Schleswig-Holsteinische.
Die Tagebuchnotizen sind in Prosa verfasst, doch sie entbehren nicht einer gewissen Poesie, wie man sie von Sarah Kirsch kennt. Was hier verträumt, romantisch oder gar weltabgewandt erscheint, darf als große Lebensmetapher verstanden werden. Mit der Abwandlung einzelner Worte, die aus „Nebel“ gern „Nebul“ oder aus dem Monat „August“ „Augustus“ formen, bleibt sich Sarah Kirsch treu. Hier schreibt sie ihr tagtägliches Gedicht ohne Reim- oder Formschema.
Das Bändchen misst zarte 175 Seiten, die sich herrlich unanstrengend lesen lassen. Wie üblich ist auch der Umschlag mit einem Aquarell der Dichterin versehen. Insgesamt ein Augenschmaus!
Literaturangabe:
KIRSCH, SARAH: Krähengeschwätz: Prosastücke. Deutsche Verlagsanstalt, München 2010. 176 S., 17,95 €.
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