BERLIN (BLK) – „Die Beutelschneider“ ist ein Roman über Kleinbürger, deren Großmannssucht unstillbar ist, über das Leben in den Kleinstädten und vor allem über die verlogene Welt der Werber, der Grafiker und der Sekretärinnen. 45 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung ist diese hellsichtige Satire, die den damaligen Lesern als viel zu scharf erschien, nun erstmals wieder zugänglich. (Klappentext)
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Bruno Sawatzki war morgens der erste im Büro. Er legte seinen Mantel ab, dann ging er ins Chefzimmer. Die Fenster waren geöffnet, vom Bodensee kam ein kalter Wind. Am Türrahmen stand der Hausmeister, die Hände in den Hosentaschen. „Na, Chef“, sagte er zu Sawatzki, „wohl aus dem Bett gefallen, was?“ Der Hausmeister redete alle Menschen, die ein höheres Gehalt hatten als er, mit „Chef“ an; zu denen, die genausoviel verdienten, sagte er „Kumpel“, und die anderen, die weniger bekamen, nannte er „Fritz“.
Sawatzki antwortete dem Hausmeister nicht. In dem halben Jahr, das er in der Firma Gottfried Kockel arbeitete, hatte er sich an die Besonderheiten Josefs gewöhnt. Mit seinem „Na, Chef“ stufte der Hausmeister den mit der Geschäftsführung beauftragten Werbeassistenten Bruno Sawatzki so ein, als läge dessen Dienstrang zwischen dem eines unteren leitenden Angestellten und dem eines oberen Kumpels. Sawatzki war es zufrieden, höher konnte man in der Firma Gottfried Kockel ohnehin nicht steigen.
Josef schloß die Fenster, dann nahm er seinen Platz am Türrahmen wieder ein. Von hier aus konnte er die Anfahrtstraße beobachten und gleich vor das Haus stürzen, wenn sich der Wagen des richtigen Chefs näherte. Gottfried Kockel kam aber noch nicht.
„Für März noch ganz schön kalt, wie?“ meinte der Hausmeister. Sawatzki setzte sich an Herrn Kockels gewaltigen Schreibtisch und ordnete die Gegenstände, welche die Putzfrau beim Staubwischen durcheinandergebracht hatte. „Ja“ sagte er, „dafür, daß wir am Bodensee sind, ganz schön kalt, dieser März.“ Er nahm die Zigarettendose aus Messing mit der Aufschrift „Salt Lake City“ und stellte sie vorn links auf den Tisch. Mit fünfzehn Zentimetern Abstand rechts daneben legte er die Federschale, aus der sich zwei Indianer erhoben, die ein Spruchband trugen mit der Inschrift „Greetings from Yellowstone River“. Zigarettendose und Federschale waren Andenken, die Herr Kockel von seiner vorjährigen Amerikareise mitgebracht hatte. Sein Schreibtisch stammte noch aus der Zeit vor der Amerikareise. Er war aus deutschem Nußbaum. Ebenfalls stammten Schrank und Stühle aus früheren Tagen, sie waren aus deutscher Stileiche, das Parkett war aus deutscher Buche. Den Abstelltisch am Fenster hatte sich Kockel erst in den letzten Monaten angeschafft. Dieser Tisch war aus kanadischer Birke. Aus einem deutschen Kockel, der bei deutschen Händlern deutsche Ware kaufte, war ein Welt-Kockel geworden, der von Ausländern als von „seinen Freunden“ sprach. Zwei Indianer mit ihrem Spruchband „Greetings from Yellowstone River“ hatten das zuwege gebracht, knapp zehn Jahre nach Ende des Krieges.
Der Hausmeister hatte seinen Platz im Türrahmen aufgegeben, um in den Räumen, in denen die Angestellten saßen, die Öfen zu schließen. Er mußte an diesem Märztag noch heizen, das Büro der Werbeberatung Gottfried Kockel befand sich in einem alten Landhaus, das am See lag.
Zehn Minuten vor acht Uhr kam Herr Büsing, der Graphiker. Auch er war an diesem Morgen zu früh im Büro, und er hatte vom Hausmeister die Frage: „Na, Chef, wohl aus dem Bett gefallen?“ hinnehmen müssen, wobei allerdings die Anrede „Chef“ zwei bis drei Ränge tiefer ausfiel als bei Sawatzki.
Ernst Büsing hatte seit einigen Wochen die Ehre, am morgendlichen Postempfang teilzunehmen. Er war der erste Graphiker des Büros, der so bevorzugt wurde, und alle waren sich einig darüber, daß einem Graphiker ein Platz vor dem geschwungenen nußbaumhölzernen Schreibtisch des Chefs eigentlich nicht zustand. Büsing war selbst nicht glücklich über diese Neuerung. Er blieb lieber in seinem Atelier und ließ sich zweimal am Tag von Sawatzki besuchen, der die Aufträge brachte und die fertigen Arbeiten abholte. Kamen später Reklamationen, hatte Sawatzki den Ärger mit dem Chef. Nun aber, seit Büsing am Postempfang teilnahm, fing niemand die Vorwürfe für ihn ab. Seit Wochen war er sehr unglücklich.
Sawatzki und Büsing gaben sich die Hand. Obgleich Herr Kockel oft über Büsing schimpfte, wenn er mit Sawatzki allein war, und oft Sawatzki schlechtmachte, wenn er mit Büsing allein war, störte dies das gute Verhältnis der beiden Angestellten nicht. Jeder wußte, daß der andere ihn nicht verteidigte. Sagte der Chef: „Der Büsing ist doch der größte Pfuscher, den ich je beschäftigt habe“, antwortete Sawatzki: „Gewiß, Herr Kockel, manchmal arbeitet er etwas unsauber.“ Wenn der Chef den Graphiker fragte: „Warum sind die Unterlagen nicht gestern schon in die Klischeeanstalt gekommen?“ antwortete Büsing: „Sawatzki hat das vergessen.“ Um den Zorn des Chefs von sich abzuwenden, waren alle Mittel erlaubt.
„Mit der heutigen Post“, sagte der Graphiker, „müßte die Antwort Dr. Linsemühls kommen.“ Sawatzki ordnete die Brieföffner auf dem Schreibtisch. Den ziselierten Brieföffner mit der Freiheitsstatue auf dem Griff, ein Werbegeschenk der General Motors Corp., Detroit, legte er halb rechts vor sich. Er drehte ihn etwas schräg, die Spitze nach innen zeigend, damit Kockel, wenn er den ersten Brief an sich nahm, sofort den Brieföffner greifen konnte, ohne ihn vor Gebrauch erst wenden zu müssen. Drei einfachere Brieföffner, Werbegeschenke der Firmen Siemens & Halske, Daimler-Benz und H. F. & Ph. F. Reemtsma, legte Sawatzki links an die Kante des Schreibtisches. Sie waren für die drei Angestellten bestimmt, die beim Postempfang zu assistieren hatten: Ernst Büsing, der Graphiker, Bruno Sawatzki, der Geschäftsführer, und Alexander Claeff, der Texter. Zwei weitere Brieföffner, einen sehr kleinen mit der Gravur: „Elisabeth Arden“ und einen derben von der Ruhrstahl AG., legte Sawatzki auf den Abstelltisch aus kanadischer Birke. Sie waren für Frau Ulla Kockel, die zweite Ehefrau des Chefs, und für Hans-Joachim Kockel, seinen Sohn aus erster Ehe, bestimmt.
„Es ist gut möglich“, sagte Sawatzki zum Graphiker, „daß die Antwort heute kommt. Donnerstag hatten wir die Skizzen für die Anzeigen weggeschickt, übers Wochenende wird sich Linsemühl entschieden haben. Es kann auch sein, daß die Antwort erst morgen eintrifft.“
„Wird der Verband die Vorschläge annehmen?“ fragte Büsing. Er hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. Den Wutausbruch des Chefs, als vor sechs Wochen der Entwurf für einen Prospekt vom Verband mit dem Vermerk zurückkam, der Vorschlag sei „vom Graphischen her wirklichkeitsfremd“, hatte Büsing noch nicht vergessen.
Sawatzki antwortete nicht auf die Frage. Er rechnete mit der Ablehnung der graphischen Vorschläge; er nahm an, daß die Skizzen nicht den Vorstellungen des Auftraggebers entsprachen. Dennoch hatte er die Arbeiten vor Absendung nicht beanstandet, weil er wußte, daß von seinem Kollegen keine besseren zu erwarten waren. Ernst Büsing war früher ein guter Gebrauchsgraphiker gewesen, er hatte Wettbewerbe gewonnen, sein Entwurf für den Evangelischen Kirchentag war als mustergültig in der Zeitschrift „Graphik, Werbung + Formgebung“ veröffentlicht worden. Allerdings gelangte der Entwurf nicht zur Ausführung. Er teilte das Schicksal der anderen Arbeiten Büsings, die oft preisgekrönt, aber von den Auftraggebern in Wirtschaft, Verbänden und Organisationen nicht angenommen wurden.
Um der wirtschaftlichen Unsicherheit eines freiberuflichen Graphikers zu entgehen, hatte sich Büsing vor einem halben Jahr auf eine Anzeige beworben, in der ein führendes Werbeunternehmen in reizvollster landschaftlicher Lage einen Chefgraphiker suchte. Später, als der Vertrag mit Herrn Kockel unterschrieben war und Büsing in Bodmansdorf am Bodensee eintraf, um seine Stellung anzutreten, stellte er fest, daß vom Anzeigenangebot nur die reizvolle Landschaft stimmte. Gottfried Kockel war kein führendes Unternehmen, er betreute nur wenige Kunden, eigentlich nur den Berufsverband der Schmelzstoff verarbeitenden Industrie e. V., Köln. Zur Unterstützung seiner Arbeit hatte Kockel außer seiner Frau und seinem Sohn nur sechs Angestellte, dazu den Hausmeister, eine Putzfrau und nun den neu angestellten Graphiker.
Als Büsing den Einspruch wagte, daß er sich unter einem Chefgraphiker doch etwas anderes vorstelle, etwas Leitendes, und nicht die Position eines alleinigen Graphikers, klopfte Herr Kockel dem jungen Mann freundlich auf die Schulter. „Wenn Sie gern leitender Graphiker eines großen Ateliers sein wollen“, sagte er, „dann bitte ich Sie, das große Atelier zu schaffen. Ich biete Ihnen die Grundlage; was Sie aus Ihrer Position machen, ist Ihre Sache.“ Er nahm den Graphiker am Arm und führte ihn durch das Büro, durch den an das Haus grenzenden Garten und an das Stückchen Bodenseeufer, das zum Grundstück gehörte. „Ich habe Sie eingestellt, lieber Herr Büsing“, sagte er, „weil ich einen wirklich überragenden Mitarbeiter suche, eben einen Chefgraphiker, der nicht zufrieden ist mit der Stellung, die ich ihm biete, sondern sich seine Position ausbaut, bis er das ist, was er gern sein möchte!“ Kockel faßte den Graphiker an beiden Händen und sah ihn an. „Auch ich möchte ein Dutzend Graphiker, was sage ich, zwei Dutzend, ja, fünfzig Graphiker beschäftigen, aber ich schaffe diesen Ausbau meines Geschäftes nicht allein. Helfen Sie mir. Sie sind jung, Sie haben Ideen. Ich sehe schon, wir beide werden es schaffen!“
Nach diesem Gespräch hatte Ernst Büsing eine Wohnung im nahe gelegenen Konstanz gemietet und geheiratet. Er hatte seine Möbel und seine Frau von Hannover nach Konstanz geholt und seinen Eltern in einem langen Brief geschrieben, daß er im Begriff sei, bedeutende Aufgaben zu übernehmen und ein großes Atelier aufzubauen. Die Leutseligkeit des Chefs hatte auf ihn einen großen Eindruck gemacht.
Inzwischen war ein halbes Jahr vergangen, und Büsing hatte bislang keine Möglichkeit gesehen, das Atelier zu erweitern. Von früh bis spät zeichnete er Gegenstände, die durch Verarbeitung von Schmelzstoff entstanden waren oder entstehen konnten. Er zeichnete Haushaltsgegenstände, davor eine Frau, die in die Hände klatschte; er zeichnete die Wände eines Eigenheims, daneben ein jungvermähltes Paar; er zeichnete Gartengeräte, Möbelstücke, Schmuckgegenstände, Maschinenteile, Musikinstrumente, Schuhe, Fahrradteile, davor, daneben, dahinter jubelnde Menschen, die durch Schmelzstoff glücklich wurden.
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Literaturangaben:
LORENZEN, RUDOLF: Die Beutelschneider. Verbrecher Verlag, Berlin 2007. 416 S., 24 €.
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