Von Jacek Lepiarz
WARSCHAU (BLK) – Auch an ihrem 85. Geburtstag will die polnische Dichterin Wislawa Szymborska ihrem Prinzip – Öffentlichkeit um jeden Preis meiden – treu bleiben. Es wäre „mit ihrer Natur unvereinbar“, diesen Tag „in großem Stil“ zu begehen, sagte der Sekretär der publikumsscheuen Literaturnobelpreisträgerin (1996), Michal Rusinek, kurz vor dem Termin am 2. Juli. Als die zurückgezogen in Krakau lebende Dichterin Anfang Juni vom polnischen Kulturminister einen hohen Kulturpreis in Empfang nahm, fand die Veranstaltung auf ihren ausdrücklichen Wunsch fast konspirativ, unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
„Ich bin keine kulturelle Institution“, sagte die 1923 in der Nähe von Poznan (Posen) geborene Szymborska in einem ihrer seltenen Interviews. Sie könne sich nicht ständig zeigen und „von acht Uhr morgens bis zehn Uhr in der Nacht reden, reden, reden“. Sie müsse Zeit zum Schweigen haben, denn Poesie entstehe im Schweigen, erklärte die Dichterin.
Dieses künstlerische Schweigen braucht die Dichterin derzeit besonders. Denn Ende dieses Jahres soll endlich, nach dreijähriger Pause, ein neuer Gedichtband erscheinen. 15 oder 16 Gedichte seien für diese Sammlung bereits fertig, andere seien gerade im Entstehen, erläuterte Rusinek. Das wäre die erste Publikation seit dem 2005 erschienenen Gedichtband „Der Doppelpunkt“. 2002 hatte Szymborska die Poesie-Sammlung „Der Augenblick“ veröffentlicht. Nach Meinung polnischer Literaturkritiker bestätigte sie mit diesen Publikationen die Stockholmer Entscheidung: beide Bände lösten begeisterte Reaktionen aus und verkauften sich zudem sehr gut. Den Grund für ihren Erfolg sehen Kritiker in ihrer schnörkellosen Sprache und der Unabhängigkeit von anderen künstlerischen Strömungen.
Seit 1931 lebt die Dichterin in der südpolnischen Kulturmetropole Krakau, wo sie polnische Literatur und Soziologie studierte. In einer Zeitungsbeilage direkt nach dem Krieg 1945 publizierte sie erstmals. In Krakau erschien 1952 auch ihr erster Gedichtband „Deshalb leben wir“. Er entsprach noch ganz dem Literaturverständnis des „sozialistischen Realismus“, was ihr manche Kritiker bis heute vorhalten. Erst nach Stalins Tod und dem politischen Tauwetter 1956 konnte sich Szymborskas Talent voll entfalten. Mit dem 1957 erschienenen Buch „Der Ruf nach dem Yeti“ schaffte sie den Durchbruch. Der folgende Band, „Salz“ (1962), begründete ihren Ruf als führende polnische Lyrikerin, neben Tadeusz Rozewicz und Zbigniew Herbert. In Deutschland machte der Übersetzer Karl Dedecius ihre Poesie bekannt. Er erhielt im Jahre 2000 für seine Übertragungen aus dem Polnischen die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt.
Konsequente Zurückgezogenheit der Dichterin kann allerdings nicht mit Desinteresse für politische und soziale Fragen verwechselt werden. Szymborska hat eine Stiftung für sozial Benachteiligte gegründet. Und als unlängst die nationalkonservativen Kräfte um die Zwillingsbrüder Kaczynski den früheren polnischen Arbeiterhelden Lech Walesa als kommunistischen Spitzel bloßstellen wollten, unterzeichnete Szymborska zusammen mit anderen namhaften Künstlern einen scharfen Protestbrief.