STUTTGART (BLK) – Im August 2008 ist der Debütroman „Das entfernte Ufer“ von Matthew Eck beim Tropen Verlag erscheinen.
In einem Krisengebiet am Horn von Afrika werden sechs junge amerikanische Soldaten in einer belagerten Wüstenstadt zurückgelassen. Nach der versehentlichen Tötung eines einheimischen Kindes gerät die Mission zu einem Kampf ums Überleben, der folgende Rückzug durch die labyrinthische Stadt und entlang der Küste führt die Soldaten in ein logistisches und moralisches Chaos. Schon bald ist nicht mehr klar, wer Freund und wer Feind ist. „Das entfernte Ufer“ ist ein spannendes und authentisches Buch. Matthew Eck erzählt mit lakonischer Einfühlung von einem Krieg ohne Helden, in dem selbst die besten Absichten schlimme Folgen haben. Und entlarvt dabei die Chimäre moderner – und vermeintlich sauberer – Kriegsführung. In dem Roman lässt Matthew Eck den literarischen Sound von Cormac McCarthy und Joseph Conrad anklingen. „Das entfernte Ufer“ ist der Debütroman von Matthew Eck und wurde u. a. mit dem „Milkweed National Fiction Prize 2007“ ausgezeichnet.
Matthew Eck, 1974 geboren, war ab 1992 Soldat in der U.S. Army und in Haiti und Somalia stationiert. Anschließend studierte er englische Literatur. Er lebt in Kansas City. „Das entfernte Ufer“ ist sein Debütroman, ausgezeichnet u. a. mit dem „Milkweed National Fiction Prize 2007“ und nominiert für den Barnes & Noble „Discover Great New Writers Award“. (vol/dan)
Leseprobe:
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EINS
Es war völlig dunkel, Mitternacht, die Hitze hätte längst nachgelassen haben müssen. Dann fielen die ersten Bomben. Die armen Seelen da unten, diese armen Schweine hatten keine Ahnung, dass wir sie vom Dach des höchsten Gebäudes der Stadt aus beobachteten, sechs Paar Augen in der Nacht, und den am Himmel kreisenden AC -130-Phantomen Schützenhilfe leisteten. Wenn sie zu dicht am Stadtrand feuerten, wiesen wir sie an, sich ein wenig zurückzuziehen. Drehten sie ihre Runden dagegen zu weit draußen über der Wüste, so dass die Stadt die Erschütterungen nicht mehr spürte, lotsten wir sie wieder näher heran. Es war eine Gratwanderung, ein Drahtseilakt, eine Herausforderung, die wir liebten. Wir waren Späher auf dem Dach, Aufklärer in einer Stadt, die von Kriegsherren und ihren Klans beherrscht wurde.
Mir war wieder übel von der Hitze. Wir hockten seit vor dem Morgengrauen hier oben auf dem Dach, und jetzt war es Mitternacht, und ich konnte die Augen kaum noch offen halten.
Fizer und Heath passten im Treppenhaus auf, ob irgendjemand das Gebäude betrat, der uns gefährlich werden konnte. Ständig landeten Fliegen auf meinen Händen und meinem Gesicht, liefen hin und her und versuchten, mir in Mund, Nase, Augen und Ohren zu krabbeln.
Die vom Meer abgewandte Seite des Gebäudes war mit einem riesigen Bündel Bananen bemalt, die Meerseite mit einer Bananenstaude, an der büschelweise reife, gelbe Früchte hingen. Die Bilder waren durch den ganzen Sand und die Sonne verblasst. Das Gebäude, ausgeplündert und dem Krieg überlassen, stand vollkommen leer.
Jeder von uns hatte einen „Kampfkumpel“: Fizer und Heath bildeten ein Paar, Cooper und ich, Santiago und Zeller. Ich lag auf dem Bauch, den Osten der Stadt im Visier, und spürte, wie die vom Tag übriggebliebene Hitze aufstieg und meinen Körper durchdrang. Irgendwo da draußen jenseits der Stadt, vielleicht acht Kilometer entfernt, war das Meer, doch ich konnte es in der Dunkelheit nicht sehen. Die Stadt selbst war nur als ein Schatten erkennbar, ein wenig dunkler als der nächtliche Himmel. Es war eine ziemliche Distanz vom siebzehnten Stock bis zum Boden, und abgesehen vom Leuchten der Sterne gab es nichts, was die Welt dort unten erhellte. Ich steckte die Nachtsichtbrille wieder ins Etui. Ich bekam Kopfschmerzen, wenn ich sie trug.
Cooper lag rechts von mir, bäuchlings wie ich, und beobachtete durchs Fernglas den südlichen Teil der Stadt. Es war ein großes Gebiet, das er überwachte, von den Flugzeugen in der Ferne bis zur Dunkelheit auf der Straße unter uns. Zeller war für den Norden zuständig und Lieutenant Santiago für den Westen, meistens marschierte er aber zwischen uns auf und ab. Vielleicht hielt er das für die Aufgabe eines Anführers: zwischen den Positionen hin und her laufen, nach dem Rechten sehen, Mut zusprechen. Er ging gebückt, damit keiner, der unten vorbeikam und zufällig nach oben schaute, seinen Umriss sah. Doch in dieser gottverlassenen Stadt schaute anscheinend nie jemand nach oben.
Fast eine Million Menschen lebten da unten, und die meisten waren vermutlich gerade aus dem Schlaf hochgeschreckt. Die Stadt selbst hatte von Westen nach Osten eine Ausdehnung von vielleicht sechzehn Kilometern, aber außerhalb ihrer Grenzen standen die Hütten und Zelte bis fast an den Horizont. Es gab keinen Strom, daher war es nachts stockdunkel. Ein Großteil der Bevölkerung hungerte. In der Vorbesprechung für diesen Einsatz hatte man uns gesagt, dass jeden Tag um die zweihundert Menschen an Hunger stürben und dass die Sterbenden durch einen steten Zufluss von Menschen ersetzt würden, die auf der Suche nach einem besseren Leben vom Land in die Stadt drängten. Beim Gedanken an all diese Menschen, die da verzweifelt und verängstigt in der Dunkelheit träumten, kam ich mir klein vor.
***
Überall war Sand, er zersetzte alles. Ich spülte mir den Mund mit Wasser aus, doch der Sand blieb. Er schabte mir an der Haut, wenn ich mich bewegte.
Santiago schlug mir im Vorbeigehen auf den Helm und sagte: „Denk nicht so viel.“ Er lachte in sich hinein, während er gebückt weiterging. Diesen Satz wiederholte er oft. Er war sein Mantra, das er mir einzutrichtern versuchte.
Ein Auto bog in die Straße ein, die zu meiner Seite des Gebäudes führte. Einer der beiden Scheinwerfer funktionierte nicht, und die Straße war voller Schlaglöcher, so dass das Auto blinzelte und hüpfte, bevor es schließlich in einer Seitenstraße verschwand. Kein Kämpfer würde sich nachts so verhalten. Wer etwas sehen wollte, lief zugleich stets Gefahr, gesehen zu werden. Man brauchte ja nur auf die Scheinwerfer zu zielen. Niemand, der auch nur ein bisschen Bescheid wusste – oder Erfahrung hatte –, würde es darauf anlegen, dass der Feind ihn sah.
Es gab zwei große Klans in der Stadt, die über Stammeszugehörigkeit, Verwandtschaft, Freundschaft und Religion geschlossen worden waren. Ein Klan beherrschte den Osten, der andere den Westen. Beide kontrollierten zudem irgendwelche Provinzdörfer und fuhren bei Bedarf hinaus, um zu plündern. Ihr Geld verdienten sie fast ausschließlich auf dem Schwarzmarkt – sie stahlen Lebensmittelsendungen, verkauften Waffen und kontrollierten die Grenzen und Häfen und damit die Exporte des Landes. Während unseres ersten Monats vor Ort hatten wir gelernt, einzelne Klanmitglieder zu identifizieren. Der Mann mit dem Drahtbrillengestell und der langen Narbe auf der Wange, der uns in einem Dorf bereits aufgefallen war, begegnete uns ein paar Wochen später in einem anderen wieder. Irgendwie fanden sie immer heraus, wo wir am nächsten Tag Lebensmittel verteilen würden. Dann kamen sie, vertrieben die Ortsansässigen und bemächtigten sich der Lebensmittel, um sie, nachdem wir fort waren, an die Leute zu verkaufen.
Einmal sahen wir kurz vor einem Dorf eine Leiche liegen. Man konnte nicht erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau war, weil eine dicke Schicht aus Bienen und Hornissen sie bedeckte. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Auf den Fahrten von Dorf zu Dorf wirbelten unsere Humvees Unmengen an Staub auf, der sich gar nicht wieder legen wollte. Große Vogelschwärme segelten wie ein einziges Geschöpf auf dem Wind, wendeten und stießen hinter uns in den Staub hinab.
***
„Josh“, sagte Cooper.
„Ja“, antwortete ich.
„Heute ist Sonntag, und ich habe trotzdem Angst.“ Er versuchte, so leise wie möglich zu sprechen, ohne dass dabei seine Stimme im Geräusch des Winds verlorenging.
„Wer nicht“, sagte ich.
„Sonntags sterben nicht so viele Menschen“, sagte er. „Hab ich recht?“ „Ja, sicher“, antwortete ich. „Niemand möchte an einem Sonntag töten“, sagte er. Dann schwiegen wir eine Zeitlang, weil wieder Bomben fielen.
Um ein Uhr forderte Santiago uns über Funk auf, uns auf unseren Posten zu melden.
Wir antworteten nach Rang. Als einziger Sergeant war ich der Erste, dann kamen Corporal Fizer, Specialist Heath, Specialist Cooper und schließlich Private Zeller.
Ich robbte zu meinem Rucksack und holte das Fernglas raus, in der Hoffnung, das Meer noch einmal zu sehen. Ich hatte das Meer an diesem Tag wohl noch gar nicht gesehen und überhaupt noch nie bei Nacht. Doch als ich die Nachtsicht einschaltete, waren da nur das grüne Leuchten des Himmels und der Sterne und die dunklen Konturen der Gebäude.
Vor Einbruch der Dunkelheit war mir aufgefallen, wie unterschiedlich die vielen Dächer waren und dass die Stadt dadurch wie ein bunter Flickenteppich aussah. Vielleicht wehte ein kühler Wind vom Meer her, aber ich konnte nichts davon spüren.
Hier oben auf dem Dach, inmitten von Hitze und Finsternis, roch die Stadt wie der Tod. In ihren Gestank eingehüllt, grauste es mich bei dem Gedanken, allein in dieser Welt die Segel zu setzen. Ich rückte weiter vom Rand weg.
***
Es war fast zwei Uhr morgens. Die Bombardierung würde bis zur Dämmerung dauern.
Ich zwang mich, erneut über den Rand des Dachs zu spähen. Ich war besonnen genug, Angst zu haben, und behielt das dunkle Areal im Blick. Jedenfalls hatte ich keine Lust, davon überrascht zu werden, dass sich plötzlich etwas regte oder jemand um die Ecke bog. Ich konnte den alten, an der Straße parkenden Lieferwagen, mit dem wir uns in die Stadt hineingestohlen hatten, nirgends entdecken. Wir hatten das Treppenhaus für den Fall präpariert, dass sich jemand anzuschleichen versuchte.
Wir waren gewarnt worden, dass auf allen Straßen in den Schlaglöchern und Rissen Landminen versteckt seien. Von den Klans abgesehen, gab es in der Gegend weder eine Polizei noch eine örtliche Regierung. Man hatte uns hergeschickt, damit wir in der Hauptstadt wieder etwas für Ordnung sorgen und den Menschen so ein gewisses Maß an Erleichterung verschaffen würden. Der Rest des Landes war zum größten Teil bereits unterworfen worden. Dies war die letzte und schlimmste aller Städte.
Auf dem Weg hierher waren wir an keinem einzigen Kontrollposten vorbeigekommen, dabei hatte man uns gesagt, man würde ständig angehalten werden. Es werde immer Geld verlangt, und die Bezahlung sei nicht freiwillig.
Das Hauptquartier hatte uns den alten Lieferwagen etwa fünfunddreißig Kilometer nördlich der Hauptstadt übergeben. Wir brauchten mehr als zwei Stunden, um über die weitgehend ungepflasterte Straße zu fahren, die die beiden Städte miteinander verband, und weitere zwei Stunden abseits der Hauptstraßen, um das Gebäude zu finden , das wir jetzt besetzten.
Cooper saß, als Zivilist getarnt, am Steuer. Er sprach die Landessprache und verstand ein bisschen was von der Kultur, und wir zählten darauf, dass er uns mit geschicktem
Reden durch eventuelle Kontrollen bringen würde. Wir saßen hinten im Wagen versteckt, bereit zum Angreifen, falls uns jemand entdeckte. Man hatte uns gesagt, die meisten Einheimischen unterstützten gezwungenermaßen einen der beiden Klans, seien im Grunde aber einzig und allein sich selbst und ihren Familien gegenüber loyal. Die Klans waren allerdings skrupellos und gut bewaffnet. Wir bombardierten die Außenbezirke der Stadt, um sie so weit einzuschüchtern, dass sie ihre jeweiligen Herrschaftsgebiete kampflos aufgeben würden.
***
Mein Magen krampfte sich zusammen, und mir war schwindelig. Selbst Wasser konnte ich nur schwer bei mir behalten.
Santiago trat hinter mich. Ich schloss die Augen und versuchte, mich einen Moment lang zu entspannen. Ich hatte das Gefühl, dass der Wind wie durch einen sonderbaren Kuss in mich hineingeblasen würde, ja dass die Stadt direkt in mich hineinatmete. Der durchdringende Gestank von Scheiße und Pisse, zusammen mit dem leicht süßlichen Geruch des Todes, raubte mir den Atem. Ich hörte Santiago weitergehen und öffnete die Augen.
Ich nahm einen kleinen Schluck lauwarmes Wasser und spuckte ihn wieder aus, um den Sand in meinem Mund loszuwerden. Die Spucke war trocken und zähflüssig. Ich blickte in die Dunkelheit hinab und zur Tür der Schule direkt gegenüber.
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Literaturangaben:
ECK, MATTHEW: Das entfernte Ufer. Roman. Aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell. Tropen Verlag, Stuttgart 2008. 188 S.,18.90 €.
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