Ich gebe es zu: Ich bin eine Spießerin. Klar hat man so seine Sekret-Sozialisationsbiografie mit in der Nase bohren, an Slips riechen, Schorf von wunden Knien abkratzen und so. Aber irgendwo ist dann wirklich auch mal Schluss: Ich weiß nicht, warum man heutzutage Blümchensex kategorisch doof finden muss. Ich bin fest davon überzeugt, dass ich mir meine Achselhaare freiwillig rasiere und nicht, weil die fiese Beautyindustrie das so will. Und ich kann auch meine gebrauchten Tampons bei mir behalten, beziehungsweise diese an öffentlichen Orten dorthinein entsorgen, wo sie auch hingehören. Und mit all dem bin ich, so glaube ich, nicht allein. Für die meisten Frauen dürfte das normal sein.
Okay, nun wissen wir spätestens seit Adorno, Horkheimer und ihrer Kulturindustrie-Theorie, dass die Masse nicht unbedingt Recht haben muss und dass Bewusstsein gelenkt wird, bis irgendetwas als normal gilt. Dass die Masse regelmäßig nach Ablenkung und Neuem schreit, aber dafür nur genormte Massenware bekommt, damit sie die Klappe hält und nicht aufbegehrt. In sofern ist jedes Bemühen, gesellschaftliche Beruhigungs- und Betrugs-Praktiken aufzudecken, edel und ehrenvoll. So ist es auch edel und ehrenvoll, dass die Ex-Viva-Moderatorin und Grimme-Preisträgerin Charlotte Roche der Hygienehysterie den Kampf angesagt hat, die mit Slipeinlagen hier und Körperenthaarung dort der modernen Frau von heute ständig über Werbung auf allen Kanälen in allen Formaten ins Bewusstsein drückt, wie sie zu reden, denken, lieben, kaufen und sich zu benehmen hat. Auf dass vor lauter suggerierter natürlicher Weiblichkeit gar keine natürliche Weiblichkeit mehr vorhanden ist. Da ist etwas dran. Da muss man mal drüber reden. Nur vielleicht nicht so, wie Frau Roche das jetzt mit „Feuchtgebiete“ tut. Logischerweise kann man aber zu dieser Erkenntnis erst kommen, wenn man sich durch das Buch gequält hat. Beschreibung einer Annäherung.
Minute Null: Aha, das Cover ist pink. Klar, geht ja auch um ein 18-jähriges Mädchen, das uns irgendwelche neofeministischen Thesen vermitteln will. Immerhin ist es nicht lila. Aber spätestens seit Julia Francks „Liebediener“ (das war anfangs lila) wissen wir ja, dass Autor/innen auf die Covergestaltung keinen Einfluss haben und die Marketingabteilung sogar Lektoratsentscheidungen kippen kann. Das hat noch nichts zu sagen. Nur, was soll diese altdeutsch anmutende Schrift? Auch das Eva Herman-Klientel anlocken?
Minute 15: Die ersten zwanzig Seiten sind geschafft. Es kann einem als Rezensentin schon viel untergekommen sein – Sex, Gewalt, Elend, Mord. Aber irgendwie ist man nie auf nachfolgend zu besprechende Bücher vorbereitet. Nie. Die 18-jährige Helen Memel liegt im Krankenhaus. Operation wegen Analfissur, vom schnellen, unachtsamen Rasieren an Po und Intimbereich. Da sie diesem Vergnügen sowie Sex im Krankenhaus gerade nicht nachgehen kann, beschäftigt sie sich gedanklich sprachgewaltig mit diesen Themen und lässt die Leserin ausschweifend daran teilhaben. Roche spricht begeistert im Podcast-Interview mit ihrem eigenen Verlag von der Protagonistin als einer „sexuellen Pippi Langstrumpf, die sehr kreativ und sportlich mit ihrem Körper umgeht.“ Ich versuche, das so zu sehen.
Minute 65: Erstmal an Fäkal-, Kraft- und sonstige nicht alltagsübliche Ausdrücke gewöhnt, macht dieses Buch stellenweise sehr Spaß, ist einem diese Straight-forwardness von Helen sogar sympathisch: Hygienefetischisten, die ihr Fett abkriegen. Männliche Protagonisten, deren realen Ebenbildern in Form von Freiern und Oberärzten man in freier Wildbahn schon immer mal sagen wollte, wie scheiße egozentrisch und unreflektiert man sie findet. Eltern, die nie einen Dialog mit einem führten, sondern nur in Stein gemeißelte Weisheiten als Lebenshilfe von sich gaben. Situationen, auf die einen nichts und niemand vorbereitet, und die man nur sieht, wenn man das Leben an sich als Experiment betrachtet, anstatt als Versuchsanordnung mit festen Ingredienzien.
Minute 86: Wow, Helen geht zu Prostituierten und tut’s auch mit Frauen, zu Forschungszwecken. Nichts Neues, hat vor ihr schon Helen Walshs Heldin „Millie“ gemacht. Und auch hier war man nicht so sicher, ob das nun Trash oder Emanzipation sein soll.
Minute 108: Es wird langweilig. Die Handlung hat sich erschöpft: Helen liegt immer noch im Krankenhaus und will dadurch ihre geschiedenen Eltern wieder zusammenbringen. Dazu ist ihr jedes Mittel recht, sogar, sich selbst zu verletzen, die Wunde wieder aufzureißen, um eine Not-OP zu erzwingen und länger bleiben zu können, auf dass die vor Sorge aufgeweichten Eltern noch eine Chance haben, sich am Krankenbett der Tochter näher zu kommen. Gleichzeitig verfolgt Helen den Plan, Krankenpfleger Robin in sich verliebt zu machen – äh, wo bitte ist das klischeefreie, emanzipierte, selbstbestimmte Mädchen von eben geblieben?
Minute 277: Okay, es IST eklig. Man versteht, warum Kiepenheuer & Witsch den Roman nicht verlegen wollte. Unter normalen Umständen hätte ich das Buch schon längst weggelegt. Gut, wäre Charlotte Roche Michel Houellebecq oder Bret Easton Ellis, dann wär’ das alles hier legitim, denn es wird ja literarisch genutzt, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen. Um die Mittel auszureizen, die eine Kunstform beschreibend zur Verfügung hat. Da dürfen ja bekanntlich Männer über Gewalt und Sex und dergleichen schreiben, und niemand wird sagen: Das ist keine Literatur. Und schließlich hat Elfriede Jelinek für ihre literarische Drecksarbeit den Literatur-Nobelpreis bekommen. Und Sibylle Berg ist mit direkter Sprache zur Lage des Geschlechterverhältnisses auch recht weit gekommen. Wenn ich mir diese Gedanken schon mache, hat das Buch doch schon was bei mir ausgelöst. Aber…
Minute 279: … mir deucht: „Feuchtgebiete“ ist im Gegensatz zu Jelinek und Berg nicht wirklich Literatur. Wie Houellebecq benutzt Roche ihre Figur (gibt ja eigentlich auch nur eine) nicht als Schablone für ein Thema, sondern stellt damit lediglich das Thema aus. Das macht noch lange keinen Roman. Da wäre ein Essay doch die weitaus bessere Form gewesen. Und warum mache ich mir nur Gedanken über Geschlechterverhältnisse und weibliche und männliche Arten zu schreiben? Roche wollte doch mehr Bewusstsein bei den Leser/innen für die Bewusstseinsbildung der Beautyindustrie. Ach so, jetzt weiß ich: Keine Spur von Kritik, ja, noch nicht mal Reflexion bei Helen gegenüber dieser. Die Wörter Medien, Werbung, Rolle, Frauenbild, Schönheit, Bewusstsein, Willen, Lebensentwurf etc. entfallen. Stattdessen eine verbale Klatsche nach der anderen gegen Einstellung und Erziehung der Mutter. Freud hätte seine helle Freude in diesen „Feuchtgebieten“ gehabt.
Minute 390: Als würde das Alltagsklischee-Trauma „Scheidungskind“ nicht schon reichen, um Helens märtyrerisches, selbstzerstörisches Verhalten zu rechtfertigen und damit negativ zu verklären, wird nun noch ein anderes draufgesetzt: Weil Helen als junges Mädchen gesehen und dann verhindert hat, wie die Mutter sich selbst und den jüngeren Bruder mit Gas in der eigenen Küche umbringen wollte, ist sie nun, wie sie ist. Gibt sich hemmungslos fremden Jungs zum Analsex hin und redet sich ein, dass sie das auch will. Geht mit Afrikanern mit, die sie nur ganzkörperrasieren, aber nicht ficken wollen. Verteilt in der Schule ihr Menstruationsblut und hat schon mit 18 eine beachtliche Drogenkarriere hinter sich. Och bitte…!
Minute 397: Alles vorbei, kleines Happy End: Eltern sind nicht wieder zusammen, aber Helen hat sich von ihnen emanzipiert – indem sie sich Robin aufgedrängt hat und nun mit bei ihm einzieht. Wie bitte? Sehen so Emanzipation und Selbstbestimmung aus? Dass man sich dem Nächstbesten an den Hals wirft und altmädchenhaft „erretten“ lässt? Dass man so beleidigt ist, dass man seinerseits die direkte verbale Auseinandersetzung scheut, so wie man es vorher die ganze Zeit insgeheim den Eltern vorgeworfen hat? Und hat mal jemand die Jungs dazu gefragt? Die scheinen ja mit allem mühelos umgehen zu können, sind handzahm oder knallhart, aber mit Sicherheit sexuell erfahren und dauergeil. Na ja, gut, langt ja auch schon, wenn PISA ihnen die größere Blödheit und die schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt bescheinigt. Ich weiß, dass dieses Buch hoffnungslos überzogen ist, so spießig kann ich dann doch nicht sein, damit mir das entgeht. Aber dies ist keine gefährliche Expedition in unwegsame „Feuchtgebiete“, das ist der klägliche Versuch, einen vermeintlich gesellschaftlichen Sumpf trocken zu legen. Roche ist viel zu intelligent, als das dies ihr Fazit sein kann. Dann brauchen wir neben der ganzen „F-Klasse“, den „Alphamädchen“, den „neuen deutschen Mädchen“ und wie sie alle da stehen und plötzlich einen neuen Feminismus fordern, nicht noch eine Forderung. Dann müssen wir nur alle noch mal Simone de Beauvoir, Marylin French und – ja, die auch – Alice Schwarzer lesen und endlich, endlich umsetzen, was diese schon vor uns geschrieben haben.
Zu Adornos und Horkheimers „Kulturindustrie“ gehörte übrigens die Tatsache, dass auch die intellektuelle Elite von der Kulturindustrie unterworfen wurde und für die Massen produzierte, und zwar dadurch, dass alles Gedankengut ebenfalls zur Ware wurde. Das kritische Denken wich dem Konsum, der wiederum schrie nach mehr Produktion, alles in dem Glauben, man würde an einer Kultur teilhaben, die in Wahrheit nie die eigene war und die man nie wirklich brauchte. Ein Mechanismus, mit dem heute noch Kulturgüter verkauft werden. Zum Beispiel Bücher.
Literaturangaben:
ROCHE, CHARLOTTE: Feuchtgebiete. Roman. DuMont, Köln 2008. 220 S., 14,90 €.
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