MÜNCHEN (BLK) – Im Oktober 2011 ist im Deutschen Taschenbuch Verlag der Roman „Das Schweigen der Mutter“ von Lizzie Doron erschienen. Mirjam Pressler hat ihn aus dem Hebräischen übersetzt.
Klappentext: Ein Photo. Ein Garten, Tel Aviv, 50er-Jahre. Im Vordergrund ein kräftiges kleines Mädchen, den Blick in die Kamera gerichtet, einen zweifelnden oder auch verzweifelten Blick, vielleicht blendet aber auch nur die Sonne. Im Hintergrund ein Gebüsch, und dort, eingerahmt von einem kleinen weißen Kreis, ein weiteres Gesicht. Fast unkenntlich, winzig und fern. Ist das der Vater, den das Mädchen nicht kannte? Nach dem es wieder und wieder vergeblich fragte und dann - längst erwachsen - zu forschen begann? Eine Suche nach Sinn und Begründung eines, wie sich zeigen wird, wahnwitzigen Geheimnisses.
Lizzie Doron, geboren 1953 in Tel Aviv, studierte Linguistik, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr erster Roman „Ruhige Zeiten“ wurde mit dem von Yad Vashem vergebenen Buchman Preis ausgezeichnet. 2007 erhielt sie den Jeannette Schocken Preis. In der Begründung der Jury heißt es: „Lizzie Doron schreibt über Menschen, die von ›dort‹ kommen, die den Holocaust überlebten und nun zu leben versuchen. In Israel. Fremd, schweigend, versehrt - und stets ihre Würde wahrend. Mit großer Behutsamkeit nähert die Autorin sich ihren Figuren und mit großem Respekt wahrt sie Distanz.“
Leseprobe:
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1
Ich kam spät am Abend nach Hause.
„Hi, Alisa, ich bin’s“, empfing mich die Nachricht auf dem Anrufbeantworter. „Also … ruf mich zurück.“
Dorits Stimme hatte den Tonfall, der schlechten Nachrichten vorbehalten war.
„Ich habe morgen eine Beerdigung“, teilte ich meinem Mann mit.
„Wieso, wer ist gestorben?“, fragte er.
„Keine Ahnung“, antwortete ich.
„Du und deine Freundinnen“, sagte er und lächelte.
Am nächsten Morgen, in den Todesanzeigen der Zeitung, fand ich die Antwort. Fejge Friman, Dorits Tante, die legendäre Kindergärtnerin, war von uns gegangen.
Mittags fand ich mich auf dem Friedhof am Rand unseres alten Viertels ein. In der kleinen Schar von Trauergästen entdeckte ich Dorit. Sie warf mir zur Begrüßung einen Blick zu. Ich antwortete ihr mit einem leichten Kopfnicken.
Dann suchte mein Blick Freunde aus der Kindheit. Aber nur ich war da, stellte ich fest. Das wunderte mich nicht. Seit eh und je war ich es, die treue Anhängerin von Beerdigungen, die sich einfand, zum Begräbnis, zu einem Besuch während der Schiwa und auch zu den Gedenktagen der Toten. Eingeladen und zur Stelle.
Welch eine Ehre, dachte ich belustigt. Vielleicht, weil ich die Veteranin aller Waisenkinder des Viertels war, und vielleicht, weil auch ich, wie meine Mutter, viele Jahre zu jeder Beerdigung mit einem Mohnkuchen zu erscheinen pflegte. „Das kichl von Helena.“ Ich erinnerte mich an den Kuchen und lächelte.
„Wenn wir diese Woche eine Beerdigung haben, dann kommst du mit mir zur Schiwa“, hatte meine Mutter früher an jedem Wochenende zu dem Kuchen gesagt, den sie aus dem „Wundertopf „ holte, „aber wenn wir zu einem Geburtstag eingeladen werden, bestreiche ich dich mit Schokoladencreme und wir gehen zusammen zur Feier.“
Jede Woche wartete im Kühlschrank der Mohnkuchen meiner Mutter auf seine Bestimmung.
Ich nehme an, dass sogar der Kuchen wusste, was für ein ungenießbares Produkt er war, und dass auch er sich freute, wenn es in der folgenden Woche im Viertel weder eine Beerdigung noch eine Geburtstagsfeier gab und man ihn am Ende in den Mülleimer werfen würde.
Ich kehrte in die Wirklichkeit zurück. Am Rand der offenen Grube, die auf Fejge wartete, die kinderlose Kindergärtnerin, stand Dorit, ihre Nichte, die wie eine Tochter für sie gewesen war. Ohne eine Träne.
Dorit Rosenfeld war – damals wie heute – auf eine leise Weise schön, sie hatte üppiges, kastanienbraunes Haar und Honigaugen. Das Mädchen mit den besten Karten im Viertel: Dorit hatte nicht nur einen Vater und eine Mutter gehabt, sondern auch einen sehr gut aussehenden Bruder, außerdem eine Tante und einen Onkel. Nur Dorit hatte eine richtige und vollständige Familie.
Ich betrachtete sie. Das Kastanienbraun war zwar blasser geworden, doch noch immer waren ihre Haare zu einem dicken, beeindruckenden Zopf geflochten, und auch das Lächeln, bei dem man dahinschmolz, und die Honigaugen waren ihr geblieben.
Vor zehn Jahren war ihre Mutter gestorben, und wir hatten uns genau hier wiedergetroffen, bei der Beerdigung. Unser Kontakt lebte wieder auf, und seither trafen wir uns an jedem Todestag ihres Vaters, an jedem Todestag ihrer Mutter und an jedem Todestag ihres Onkels, Fejges Mann. Dreimal im Jahr trafen wir uns hier auf dem Friedhof, und von hier aus gingen wir ins Kino, in die Nachmittagsvorstellung, nur wir beide. Danach machte sich Dorit immer gleich eilig auf den Weg nach Hause, sie wohnte im Emek Jesreel.
„Familienfeste“ nannte ich unsere morbiden Treffen. Ab heute, dachte ich, haben wir ein Familienfest mehr, ab heute werden wir uns viermal im Jahr treffen.
Die Beerdigungszeremonie näherte sich ihrem Ende. „Fejge kehrt zurück zu Wladek, ihrem Mann, und zu Itta, ihrer Schwester, und zu Schmulik, ihrem Schwager – die ganze Familie ist wieder vereint“, sagte der Rabbiner und verhaspelte sich fast, so schnell sprach er, er musste zu einer weiteren Beerdigung. Noch bevor die Erde Fejge bedeckte, waren fast alle Trauergäste verschwunden.
„Wie gut ist es und wie angenehm“, hörte ich Fejges Akkordeon wieder spielen, und diese Erinnerung brachte mir überraschend einen heißen Sommermorgen zurück. Fejge hatte die Kindergartenkinder zum Rhythmikunterricht versammelt, die Kinder bekamen Tamburine, sie spielte begeistert Akkordeon und hatte ausgerechnet Chajale Fink für die Rolle des kleinen Fischs ausgewählt, der zu der Musik im Wasser tanzte. „So kühlen wir den heißen Wüstenwind“, sagte Fejge mit einem eingeschrumpften Lächeln.
Ich hasste die Rhythmikstunden, ich hasste das Akkordeon, die Tamburine und auch Chajale, die Angeberin.
„Pst“, flüsterte ich Dorit zu, die neben mir saß. Ich wusste, dass sie gekränkt war, weil Fejge nicht sie für die Rolle des kleinen Fischs ausgesucht hatte. „Komm, lass uns weglaufen!“
Dorit war begeistert.
„Dein Blick verrät mir ohne Worte, was du willst“, sagte sie einmal zu mir, als wir schon groß waren.
Sie hatte sich schon immer eingebildet, mich durchschauen zu können, all meine Gedanken zu kennen, all meine Wünsche. Ein altvertrauter kleiner Zorn schoss in mir hoch.
„Komm, lass uns meinen Vater suchen“, hatte ich ihr damals vorgeschlagen.
Dorit war rot geworden.
„Komm!“ Ich zog sie hinaus, während die anderen Kinder aufstanden, um zu tanzen, und wir liefen auf die Straße, erschrocken vor unserem eigenen Mut.
Wir rannten über die Straße, auf der nur Alte-sachen-Mietek mit seinem halb blinden Esel entlangkam, ließen den Lumpensammler und sein Gerümpel hinter uns und landeten bei Elektro-Koslowski, der seinen Laden mit einem quietschenden Ventilator zu kühlen versuchte, allein an der Kasse stand und sehnsüchtig auf Kunden wartete, die nicht kamen.
„Wo ist mein Vater?“, fragte ich ihn.
Herr Koslowski schwieg verlegen und nahm aus einem Regal eine alte Taschenlampe. Er schenkte sie mir und warf Dorit einen ärgerlichen Blick zu.
Draußen stießen wir auf Alte-sachen-Mietek, der meine Taschenlampe gierig betrachtete.
„Wo ist mein Vater?“, fragte ich auch ihn.
„Irgendwo“, erwiderte er mit einem zahnlosen Lächeln und streckte die Hand nach der Taschenlampe aus.
„So, dann bekommst du sie nicht“, fertigte ich ihn ab.
„Klafte*“, schimpfte er. Ich hatte das Gefühl, er wollte noch etwas sagen, aber Dorit beschloss, vor ihm davonzulaufen.
Ich zog sie in die Richtung unserer Wohnung. Ich hatte mir überlegt, dass mein Vater vielleicht zu uns nach Hause kam, wenn ich nicht da war. Diesen Gedanken behielt ich für mich, ich verriet ihn auch Dorit nicht. Ich sagte nur zu ihr, mein Vater sei eine Art Vater, der sich versteckt. Ich erzählte ihr nicht, dass ich ihn hinter unserem Haus verschwinden und eilig auf der Allee davonlaufen gesehen hatte, wahrscheinlich auf dem Weg zu seinem Versteck, und einmal hatte ich ihn sogar in Fejges Küche gesehen. Ich hatte Angst, Dorit würde sagen, das sei Unsinn, das könne gar nicht sein. Stattdessen erzählte ich ihr, ich würde mit meinem Vater Verstecken spielen, er wäre derjenige, der sich versteckt, und ich diejenige, die sucht, und eines Tages würde ich ihn finden. Zu meiner Freude hörte Dorit nur zu und sagte nichts.
Mein Vater wird eines Tages noch auftauchen, sagte ich mir, trotz des Schweigens meiner Mutter, trotz Dorits Schweigen, trotz des Schweigens aller anderen, obgleich ich keinen Beweis für seine Existenz hatte, obgleich ich nicht wusste, wie er aussah, und auch nicht wusste, wie ich ihn erkennen sollte. Ich wusste nur, eines Tages werden wir uns treffen.
Doch von Elektro-Koslowski gingen wir erst einmal zur Synagoge. „Wo ist mein Vater?“, fragte ich den Synagogendiener, der sich die Hitze mit einem Taschentuch fortwedelte. Er versuchte mich loszuwerden und fing an, irgendetwas von dem wunderbaren Schnee zu stammeln, den es in Białystok gegeben hatte.
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Enttäuscht verließ ich die Synagoge. Ich wollte nun nach Hause, aber Dorit beharrte darauf, noch zur Praxis von Dr. Wollmann zu gehen.
„Dann schon lieber in den Kindergarten“, sagte ich verärgert.
„Vielleicht ist dein Vater bei Dr. Wollmann, vielleicht fühlt er sich nicht gut.“ Dorit zog mich Richtung Krankenkassenambulanz.
„Aber meine Mutter arbeitet dort“, schrie ich sie an.
„Wenn jemand nicht nach Hause kommt, dann ist er entweder krank oder etwas anderes Schlimmes ist ihm passiert, das weiß doch jeder. Wir müssen zu Dr. Wollmann gehen“, überredete sie mich.
Vielleicht ist mein Vater wirklich dort, schoss es mir durch den Kopf, vielleicht besucht er ja meine Mutter bei der Arbeit.
Aber im Hof der Krankenkassenambulanz trafen wir auf Fejge, die Kindergärtnerin.
„Sie ist schuld“, sagte Dorit sofort. Ich warf ihr einen wütenden Blick zu.
„Arme Helena, dieses Kind ist wirklich eine Plage“, hörte ich Fejge murmeln.
Ich zwickte Dorit in den Arm.
Dorit fühlte sich gezwungen, mich zu verteidigen: „Ihr war nicht gut.“
Aber Fejge hörte gar nicht hin. Sie hatte genug von mir, genug von Dorit, genug von der Hitze und spritzte sich Wasser aus dem Schlauch der Berieselungsanlage ins Gesicht.
Das Wasser tropfte auf ihre weiße Bluse und ließ ihren großen Büstenhalter sichtbar werden, der ihre schweren Brüste beherbergte.
„Hat sie ihren Vater gesucht?“, fragte Fejge Dorit leise, und Dorit bejahte ihre Frage mit einem stummen Nicken.
Ich wollte Dorit wieder zwicken, aber Fejge packte mich schon am Arm, zerrte mich zurück in den Kindergarten und sperrte mich in der Toilette ein.
„Aber warum nur ich? Was habe ich denn getan?“, schrie ich verzweifelt. Ich hörte, wie Fejge den anderen Kindern erklärte, es sei verboten, aus dem Kindergarten wegzulaufen, und meine Bestrafung solle ihnen ein warnendes Beispiel sein.
„Mir stinkt’s!“, brüllte ich aus meiner nach Urin riechenden Einzelzelle. „Hoffentlich stirbst du in Hitlers Grab!“ Ich trat gegen die Tür.
Gegen Mittag kam Itta in den Kindergarten, Dorits Mutter, die Schwester von Fejge.
„Du bist zedrejt“, schrie sie Fejge an und versuchte, mir die Tür aufzumachen, „verrückt bist du!“ Sie rüttelte an der Klinke und am Schlüssel, aber die Tür erbebte nur.
„Hier ist nicht Majdanek!“, hörte ich sie Fejge anbrüllen. „Was ist das, du hast sie eingeschlossen? Nun, dir traue ich alles zu!“
„Soso“, antwortete Fejge, „ich bin schlecht, und du, was bist du? Du bist eine Gerechte, was?“ Und auf Jiddisch spuckte sie aus: „Ich ken nischt fargessn …“
Ich saß auf dem Toilettendeckel und heulte. Mir war klar, dass sie mich schon vergessen hatten, ich war sicher, ich müsste bis in alle Ewigkeit hier bleiben.
Plötzlich wurde es ganz still im Kindergarten. Sogar Fejge und Itta hörten auf, einander anzuschreien. Ich begriff, dass meine Mutter gekommen war.
Was würde jetzt passieren? Ich wusste nicht, ob ich mich freuen oder noch mehr fürchten sollte.
Ich legte das Ohr an die Toilettentür. Meine Mutter verlangte von Wladek, Fejges Mann, er solle die beiden Väter von Chajale holen, die Radiotechniker unseres Viertels.
„Sie werden die Tür aufbrechen und bei dieser Gelegenheit können sie deiner Frau und ihrer Schwester ein Gehirn einsetzen „, sagte meine Mutter zu ihm, und zu Fejge und Itta sagte sie: „Jetzt könnt ihr weiterstreiten!“
Jona und Jissachar, Chajales Väter, vollbrachten ein Wunder mit dem Schraubenschlüssel und befreiten mich aus der Toilette.
In dem Moment, als die Tür endlich aufgebrochen war, sprang ich mit einem Satz hinaus. Ich sah Chajale, die ihre Väter umarmte, und Dorit, die sich zwischen Fejge und ihrer Mutter versteckte.
Fejge, blass geworden, trat auf mich zu, bat mich um Verzeihung und versuchte, mich in den Arm zu nehmen. Ich erstickte fast an ihrem Schweißgeruch, durchsetzt mit dem süßlichen Parfüm „Courage“, das in der Wärme zwischen den Hügeln ihrer Brüste sauer geworden war.
Ich stieß sie weg und schwor, ihr bis in alle Ewigkeit nicht zu verzeihen.
Meine Mutter wollte gehen. „Ein so dünnes Mädchen hätte man lieber in der Küche einsperren sollen statt im Klo“, sagte sie abschließend zu Fejge.
Nur Fejge und ich lachten nicht.
Ich ließ meine Wut an Dorit aus. „Ab jetzt bin ich nur noch Chajales Freundin!“
„Was habe ich denn getan?“, stammelte sie.
„Du hast mich zur Krankenkassenambulanz geschleppt und mein Vater hat zu Hause auf mich gewartet“, zischte ich.
Meine Mutter beendete die Diskussion. „Ihr Vater ist weggefahren, weit weg.“
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Literaturangabe:
DORON, LIZZIE: Das Schweigen meiner Mutter. Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2011. 220 S., 14,90 €.
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