FRANKFURT AM MAIN (BLK) – Die deutsche Erstausgabe des Journalromans „Schnee in den Ardennen“ von Jürgen Becker wurde 2009 vom Suhrkamp Verlag, als Taschenbuch veröffentlicht.
Klappentext: Eine Dachkammer in einem abgelegenen Gehöft ist der Raum von Imaginationen und Erinnerungen. Hier beginnt der Erzähler sein „Journal“, und was er aufzeichnet, sind Vorgänge in nächster Umgebung und in ferner Vergangenheit, im Traum und in der Wirklichkeit. Beckers Beobachtungen streifen die Hügellandschaft seiner rheinischen Heimat, wandern nach Berlin und in den deutschen Osten, richten sich auf Bilder der ersten Jahre nach dem Krieg, erinnern sich an einen Karmann Ghia und an lange Fernsehabende, daran, wie man vor dem Radio saß, um Welt zu empfangen, an Möbel und Bilder.
Jürgen Becker, 1932 in Köln geboren, begann nach kurzem, abgebrochenem Studium seine Existenz als freier Schriftsteller; seinen Lebensunterhalt bestritt er jahrelang mit wechselnden Tätigkeiten, als Arbeiter und Angestellter, als Werbeassistent und Journalist. Er arbeitete für den WDR und in den Verlagen Rowohlt und Suhrkamp. Zwanzig Jahre lang, bis 1993, leitete er die Hörspielredaktion des Deutschlandfunks. (olb)
Leseprobe:
©Suhrkamp Verlag©
Winterkämpfe. Es ist das Foto von Robert Capa, das ich, ohne danach gesucht zu haben, beim Blättern plötzlich wiederfinde. Winter 1944. Zwischen dem Fichtengehölz auf dem Hügelkamm und den Weidezäunen in der Talsenke bewegen sich über das abschüssige Feld Dutzende kleiner, dunkler Gestalten. Sie halten in den Armen herabgesenkte Waffen und werfen, die tief stehende Sonne im Rücken, Schatten, die um ein Dreifaches länger als die uniformierten Körper sind. Der Trupp geht locker in offenen Reihen vor; die großen Abstände, die sie untereinander halten, lassen die Mannschaften der 101. US-Luftlandedivision wie Einzelgänger, wie Verstreute erscheinen. Sie sehen nicht aus wie von der 15. Panzergrenadierdivision Umzingelte. Ob sie alle überleben oder nicht, mitbeteiligt ist der Trupp daran, dass die letzte deutsche Winteroffensive im Westen scheitert. Zurückgekommen ist der Schnee, jetzt in den letzten Tagen des Januar. Der Frost hält ihn auf den Dächern und für eine Weile sogar auf den Straßen fest. Die frühlingshafte Luft im Dezember hatte die Schneeglöckchen, ganze Gruppen auf der Wiese, vorlaut gemacht; sie meinten, ihre kurze Zeit als Avantgarde finge schon zu Weihnachten an. Die Kälte lässt die Halme dünn und spitz zusammen frieren, und mit der Ausbreitung des Schnees wird klar, wer hier noch dominiert. Mehrmals am Tagwiederholen sich die Turbulenzen im Futterhäuschen unterm Kirschbaum. Ein Pulk Stare drängelt sich lärmend auf die Futterrampe und erdrückt fast das angstvoll fiepende Rotkehlchen. Unfreundlich hüpfen Elstern und Krähen aufeinander los und verjagen sich gegenseitig hoch in die Kirsche, hinüber ins Geäst des Birnbaums. Die schwarzweißen und die schwarzen Vögel haben unter- 7 schiedliche Strategien. Krächzend und geckernd warten sie zunächst einmal ab, dann verstummen sie und scheinen einander nicht mehr zu beachten. Die Elstern sitzen dem Vogelhäuschen näher; sobald die ersten herunterflattern und ins Innere einzudringen versuchen, schießt eine Krähe heran und vertreibt sie. Die Elstern fliehen vor jeder direkten Konfrontation. Beginnt eine Krähe, und die Krähen fangen damit immer einzeln an, den Besetzungsversuch – wobei die Dimension des Vogelhäuschens der Körpergröße beider Vogelarten überhaupt nicht entgegenkommt; trotzdem, sie schaffen es immer wieder –‚ entschwirrt der ganze Elsternschwarm in eine Baumgruppe, deren dichtes Gezweig die Vögel mit den messerlangen Schwanzfedern unsichtbar macht. Die Krähen haben das Vogelhäuschen für sich allein. Nicht lange. Zwei Eichelhäher haben ihr Versteck unter der Fichte verlassen und äugen mit schiefem Kopf vom Kirschbaum auf den Futterplatz herab. Dann lassen sie sich mit aufgespreizten Flügeln fallen, mitten unter die Krähen, die zwischen den Standhölzern des Häuschens nach heruntergefallenen Körnern picken. Kurzes, heftiges Durcheinander, bis plötzlich, wie auf Kommando, die Streitenden auseinanderstieben und einzeln sich auf fernen Wipfeln niederlassen. Und schon, als hätten sie auf den Moment der Räumung gewartet, sind die Elstern wieder da, und jetzt lassen sie sich auch nicht vom Buntspecht beirren, der die ganze Zeit, unbeteiligt, am Meisenknödel hängt und rasch und konzentriert seinen Schnabel ins harte Fett der Kugel schlägt. Hausgeschichte. Die beiden Kammern über dem ehemaligen Stall sind früher der Heuboden gewesen. So lange das her ist, die Räume haben ein Gedächtnis bewahrt, das sich dem Bewohner öffnet, wenn er mit ganzer Intensität seinen Sinnen, seinen Einbildungen vertraut. Gerüche und Geräusche werden wahrnehmbar, die das frühere Landleben vergegenwärtigen. Der Schwung der Heugabel hoch zur Giebeltür, das Geschepper morgens der Milchkannen, das Aufklatschen der Kuhfladen. Die näherkommende Industrie holte die Männer vom Hof weg; der Luftkrieg brachte Evakuierte ins Haus. Ledermäntel fahndeten nach Verstecken. Die beiden Mädchen, die in der dunklen Winterfrühe von ihren Bettgestellen herunterkletterten, zerbrachen als erstes das Eis in der Waschschüssel. Unterwegs war kilometerweit die Mutter; sie hatte den Vater in seinem stillgehaltenen Refugium zu versorgen. Meine Herkunft, meine Anwesenheit berührt nicht länger nur den Rand der Geschichte. Nachts, in der kalten Schlafkammer, höre ich den Marder, wie er zwischen den Dachbalken herankriecht.
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Literaturangabe:
Becker, Jürgen: Schnee in den Ardennen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 186 S., 19,90 €.
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