Von Frank Sorge, Berlin
Gestern hatte ich in den Schönhauser Allee Arcaden – eigentlich knapp vor Betreten – eine Idee zu einem Märchen. Es war einmal die Schönhauser Drehtür, die drehte sich Tag für Tag am Eingang eines Warenhandels im Tal der Heuschrecken, das bis heute genannt wird: Prenzlauer Berg. Flott schaufelte die Drehtür Menschen in die geheizten Hallen hinein und in die kühle Herbstluft hinaus, gleichermaßen das geheizte und von gierigen Schnappatmern angefressene Himmelsgetränk der Innenräume mit nach draußen und das von Alleebäumen aufgearbeitete draußen wieder nach innen.
So hätte es sein können und war es vielerorten auf der Welt, aber diese Tür war etwas zu klein geraten für die Aufgabe. Nicht nur dem Ansturm zu Weihnachten war sie nicht gewachsen, sondern sie kam schon mit den normal belebten Alltagsabenden nicht klar. Im Weg stand ihre Vorsicht, kam einer der ihr anvertrauten Menschmoleküle ihren Scheibenschaufeln zu nahe, stoppte sie abrupt. Worauf aber, bei voller Belegung wiederum andere Grüppchen in den drei Kammern, die ja doch gemessenen Schrittes weiterzukommen meinten, voll an die stoppende Scheibe vor ihnen rannten. Während sich in der Kammer der Erstauslöser der Störung, gestern war ich es, die Menschen wieder sortierten, blieben die anderen stehen und wurden dann aber von hinten mit der Scheibe getroffen, weil die Tür schon wieder weiterdrehte. Die sich in der ersten Abteilung in Bewegung gesetzt hatten, knallten jetzt frontal an die abrupt bremsende Scheibe. Und so weiter ging es in Tippelschritten und nicht nur drängelten sich die Kundenknäule enger zusammen, sie wurden auch ständig von hinten geschoben und stießen sich die Nasen.
„Oh jeh, oh jeh“, jammerte die Tür in der Nacht.
Schafften es doch einzelne nach draußen, wurden sie gleich durch neues Personal ergänzt und so drehte sich mancher Kunde wohl zehnmal um den Mittelpunkt der Tür, bis er sich vom Innenkreis zum gelegentlich offenen Weg nach drinnen oder draußen vorgearbeitet hatte. „Oh jeh, oh jeh“, jammerte die Tür in der Nacht und buhlte um die Gunst und das Verständnis der Nachtwächter.
„Ich kann es wohl nicht“, peinigte sie sich mit Zweifeln, „was für ein Dilemma und wie oft sie auf mich schimpfen, den ganzen Tag. Warum hatte mich der große Velux nicht etwas umfangreicher, etwas angemessener gestaltet? Mit welcher Sünde habe ich diesen falschen Platz in der Welt verdient, war ich nicht immer glasklar ungeeignet für den Job? Schon die mich eingebaut hatten, feixten: die Kleine wäre ja überlastet von Grundauf. Und sie hatten recht, aber bauten mich trotzdem ein, oh jeh, ich wünschte ein paar saufende Wochenendrandalierer würden mir endlich ein Ende bereiten oder eine Bombe. Ich würde sie auch nach Ladenschluss zünden, damit niemand sonst zu Schaden kommt.“
So also jammerte die arme Tür bis zum frühen Morgen, wo man sie aktivierte und sie wieder den ganzen Tag kläglich versagen würde, für einen schnellen Austausch von Kunden und Sauerstoff zu sorgen. Also öffnete man links und rechts von ihr schon aus Gewohnheit kleine Seitentüren, wer doch in die immer erbärmlicher sich fühlende Drehtür spazierte, bekam seinen Fehltritt jetzt noch deutlicher zu spüren. An den Nottüren spazierten sie mit schiefem Grinsen an den Drehtüropfern vorbei und winkten. Viele machten Fotos der Drehtürdeppen, die Zentimeter für Zentimeter nur vorankamen und von der überforderten Tür hin- und hergerissen wurden, stellten sie sofort ins Internet und machten sie zu traurigen Stars der neuen Schimpf-und-Schande Plattform: www.komplettdoof.de. Es wurde immer schlimmer, viele kamen monatelang nicht wieder aus der Tür hinaus, mit Lippenstiften wurden hämische Kommentare ans Glas geschmiert und wer seinen Lebenspartner entsorgen wollte, lockte den Unbedarften in die Drehtür und entwischte durch die Seitentür in ein besseres Leben.
Traurige Parabel auf Schicksal, Scheitern und Stillstand der zu klein geratenen Schaufelräder der Welt
So könnte das Märchen gehen, eine traurige Parabel auf Schicksal, Scheitern und Stillstand der zu klein geratenen Schaufelräder der Welt. Und sie drehte sich kaum weiter bis ans Ende ihrer Tage, eine höllische Aussicht. Denn natürlich gaben sich Randalierer nicht mit einer zu schwach konstruierten Drehtür ab und schlugen nur rundherum über die Jahre die protzigen Auslagen der Juweliere in Scherben. Dabei wäre es ein echter Gnadenakt gewesen, durch ein paar gezielte Tritte oder ein Aushebeln der Mechanik. Wie süß klöngen das Knirschen der sich stumpf zerdrehenden Zahnräder, das Reißen der Bänder und das Verbiegen der Stahlstifte im Gedärm der gepeinigten Kreatür? Würde man sie zur Schrottpresse fahren, was für ein Freudenfest würde sie feiern, aber der Tag schien ferner als das erneute Heranrücken eiszeitlicher Gletschergiganten.
Viel Zeit hatte ich in meinem gläsernen Abteil dieser dämlichen Drehtür, nicht nur um das Schandmärchen zu ihrer Verhöhnung zu erdenken, sondern konnte es gleich in mein Notizbuch schreiben und durchs Telefon diktieren. Als es in einem Buch erschien, an dass ich bei Betreten der Tür noch lange nicht gedacht hatte und das mir die liebe Freundin grauhaarig geworden von außen an die Scheibe hielt, um es mir zu zeigen, fasste ich endlich den Entschluß, dem Elend ein Ende zu bereiten und durch einen gewaltsamen Ausbruch uns beiden, Tür und Mensch, zur Freiheit zu verhelfen. Aber längst waren die Insassen zu schwach geworden und standen zu dicht gedrängt, um auch nur einen Arm zu heben.
Die nächste Generation stellte uns unter Denkmalschutz, längst war der Rest des Einkaufscenters abgerissen und nur ein historisches Stück der vorderen Fassade hinterließ man der Nachwelt zum Gedenken. Als die Gletscher heranrückten, zahlte ich der Tür den Wetteinsatz.
„Siehste, hab ichs nicht gesagt?“
„Ja, du hast gewonnen“, sagte ich.
Frank Sorge lebt als Schriftsteller in Berlin. Er tritt regelmäßig auf Lesebühnen auf, z.B. bei den Brauseboys und beim Kantinenlesen. (www.frank-sorge.de)