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Menschenschicksal

Die Erzählung des russischen Schriftstellers in einer Neuauflage

© Die Berliner Literaturkritik, 29.10.09

FRANKFURT/MAIN (BLK) –  Die Erzählung „Ein Menschenschicksal“ des Literaturnobelpreisträgers Michail Scholochow ist 2009 als Neuauflage in der Edition Büchergilde erschienen. Das Vorwort stammt von Willi Beitz.

Klappentext: Frühjahr 1946: Das Wasser des Don ist über die Ufer getreten. Es ist einer der ersten warmen Tage des Jahres. Andrej Sokolow erinnert sich bei einer Zigarette an sein Leben. Scheinbar beiläufig erzählt er von seinen Erlebnissen als Soldat und Zwangsarbeiter im Zweiten Weltkrieg. Doch dabei entwickeln seine Schilderungen eine Dynamik und Eindringlichkeit, die sich dem Leser ins Gedächtnis brennt.

Michail Scholochow wurde 1905 in Wjoschenskaja am unteren Don geboren. Er kämpfte im russischen Bürgerkrieg auf Seiten der Kommunisten. 1922 ging er nach Moskau, um Journalist zu werden und begann zu schreiben. Mit „Neuland unterm Pflug“ gelang ihm der Durchbruch. Für seinen Epos „Der stille Don“ erhielt Scholochow 1965 den Literaturnobelpreis. Er starb 1984. (kum)

Leseprobe:

©Edition Büchergilde©

Der erste Nachkriegsfrühling war am oberen Don mit Macht und Ungestüm eingebrochen. Ende März blies vom Asowschen Meer her ein warmer Wind, und schon nach zwei Tagen lag der Sandboden am linken Ufer des Dons nackt und bloß da, die schneegefüllten Steppenschluchten quollen von Schmelzwasser über, die Steppenbäche schwollen, vom Eis befreit, zu reißenden Flüssen an, und die Wege wurden fast unpassierbar.

Just um diese unfreundliche Zeit der Wegelosigkeit mußte ich nach der Staniza Bukanowskaja fahren. Keine weite Strecke – knapp sechzig Kilometer – aber sie zu überwinden war gar nicht so einfach. Ich brach mit einem Freund im Morgengrauen auf. Die beiden kräftigen Gäule konnten den schweren Wagen kaum ziehen, obwohl sie sich ins Geschirr legten, daß die Stränge schier rissen; die Räder versanken bis zu den Naben in der breiigen Masse aus Schnee, Eis und Sand. Nach einer Stunde waren die Flanken und Kruppen der Tiere unter den schmalen Riemen des Hintergeschirrs bereits mit weißem, flockigem Schaum bedeckt, und in der frischen Morgenluft roch es scharf und durchdringend nach Pferdeschweiß und nach erwärmtem Birkenteer, mit dem das Lederzeug reichlich eingefettet war. Wenn es die Pferde besonders schwer hatten, stiegen wir ab und gingen zu Fuß. Unter den Sohlen gluckste der matschige Schnee, und das Gehen fiel schwer; am Wegrand aber, auf dem eine dünne Eisschicht lag, die glasklar in der Sonne glitzerte, machte es noch mehr Mühe, voranzukommen.

Etwa sechs Stunden brauchten wir, um die dreißig Kilometer bis zum Flüßchen Jelanka zurückzulegen, das wir überqueren mußten.

Das kleine Flüßchen, das im Sommer stellenweise austrocknete, hatte gegenüber dem Dorf Mochowski die sumpfige, mit Erlen bestandene Niederung kilometerweit überflutet. Am Ufer fanden wir nur ein leckes Flachboot vor, das nicht mehr als drei Personen faßte. Wir schickten das Gespann zurück. Drüben stand für uns im Kolchosschuppen ein alter, klappriger Jeep bereit, den wir im Winter dort untergestellt hatten. Der Fahrer und ich stiegen voller banger Ahnung in den morschen Kahn. Mein Freund blieb mit dem Gepäck am Ufer. Kaum hatten wir abgestoßen, da schossen durch die undichten Planken an verschiedenen Stellen kleine Wasserstrahlen empor. Mit behelfsmäßigen Mitteln versuchten wir das unzuverlässige Schiffchen abzudichten und schöpften ununterbrochen das eindringende Wasser aus. Nach einer Stunde hatten wir das andere Ufer der Jelanka schließlich erreicht. Der Fahrer holte den Jeep aus dem Dorf, stieg dann ins Boot, griff nach dem Ruder und sagte: „Wenn dieser verdammte Trog nicht mitten im Fluß auseinander bricht, dann sind wir in zwei Stunden hier, eher brauchen Sie uns nicht zu erwarten.“

Das Dorf lag ziemlich weit abseits, und an der Anlegestelle herrschte eine solche Stille, wie man sie selbst in menschenleeren Gegenden nur im Spätherbst und im Vorfrühling kennt. Vom Wasser her drang feuchte Luft, gesättigt mit dem bitterherben Geruch modernder Erlen; von den fernen Chopjorsteppen aber, die in fliederfarbenem Dunst verschwammen, trug ein leichter Windhauch den ewig jungen, kaum wahrnehmbaren Duft der Erde herüber, die sich eben erst von der Schneedecke frei gemacht hat.

Auf dem Ufersand lag in der Nähe ein umgestürzter Flechtzaun. Ich setzte mich darauf, um zu rauchen. Als ich jedoch meine Hand in die rechte Tasche der Steppjacke steckte, mußte ich peinlich überrascht feststellen, daß das Päckchen Zigaretten „Belomor“ völlig durchnäßt war. Während der Überfahrt hatte eine Welle den Rand des tief im Wasser liegenden Bootes überspült und mich bis zum Gürtel mit ihrer trüben Flut begossen. In jenem Augenblick hatte ich keine Zeit, an die Zigaretten zu denken, ich mußte schleunigst das Ruder fahrenlassen und das Wasser ausschöpfen, damit das Boot nicht unterging. Jetzt aber, als ich das aufgeweichte Päckchen behutsam aus der Tasche zog, machte ich mir bittere Vorwürfe über meine Fahrlässigkeit. Ich legte die feuchten, dunkel gewordenen Zigaretten einzeln auf den Zaun zum Trocknen hin.

Es war Mittag. Die Sonne schien heiß wie im Mai. Ich hoffte, die Zigaretten würden bald trocknen. Die Sonne schien so heiß, daß ich schon bedauerte, die wattierte Militärhose und die Steppjacke angezogen zu haben. Es war der erste wirklich warme Tag nach dem Winter. Und es tat wohl, so auf dem Zaun zu sitzen, ganz allein, der Stille und der Einsamkeit hingegeben, die alte Soldatenpelzmütze abzunehmen, das von der schweren Arbeit des Ruderns nasse Haar im Wind trocknen zu lassen und gedankenlos die weißen, bauschigen Wattewolken zu verfolgen, die am blassen Himmelsblau dahinzogen. Bald darauf erblickte ich einen Mann, der hinter einem Gehöft am äußersten Rande des Dorfes hervorkam. Er führte einen kleinen Jungen an der Hand, der nicht mehr als fünf bis sechs Jahre alt sein mochte. Müde schleppten sie sich auf der Straße in der Richtung zum Fluß. Bei dem Jeep angekommen, bogen sie jedoch zu mir ab. Der Mann, dessen hohe Gestalt leicht vorgebeugt war, trat dicht vor mich hin und grüßte mit gedämpftem Baß:

„’n Tag, Kumpel!“

„Guten Tag.“ Ich drückte die mir dargebotene große, schwielige Hand.

Der Mann neigte sich zu dem Jungen hinab und sagte: „Wünsch dem Onkel einen guten Tag, mein Söhnchen. Man sieht gleich, er ist auch ein Kraftfahrer wie dein Vater. Nur haben wir beide einen Lastwagen gefahren, während er dieses kleine Auto hier steuert.“

Der Junge sah mich aus hellblauen, unschuldigen Kinderaugen offen an, lächelte kaum merklich und streckte mir tapfer das rosige, kalte Händchen hin. Ich schüttelte es leicht und fragte: „Nanu, junger Mann, warum ist denn deine Hand so kalt? Es ist doch schön warm, und du frierst?“

Mit rührender kindlicher Zutraulichkeit lehnte sich der Kleine an meine Knie und zog verwundert die weißblonden Brauen hoch.

„Aber Onkel, ich bin doch noch gar kein Mann. Ich bin doch ein ganz kleiner Junge, und überhaupt friere ich nicht, nur die Hände sind kalt, weil ich mit Schneebällen gespielt habe.“

Der Vater nahm den halbleeren Rucksack ab, setzte sich erschöpft neben mich und sagte:

„Ein Kreuz ist es mit diesem Begleiter! Seinetwegen habe ich auch schlappgemacht. Schreitet man einmal tüchtig aus, so setzt er sich gleich in Trab, und einem solchen Infanteristen soll man sich nun anpassen. Wo ich einen Schritt machen müßte, da mache ich drei, und so gehen wir, jeder für sich, als wäre ein Pferd mit einer Schildkröte eingespannt. Und dabei darf man ihn nicht eine Sekunde lang aus den Augen lassen. Kaum schaut man weg, da watet er schon durch eine Pfütze oder bricht einen Eiszapfen ab und lutscht daran, als wäre es ein Bonbon. Nein, das ist keine Männersache, mit einem solchen Begleiter zu wandern.“ Er schwieg eine Weile und fragte dann: „Und du, Kumpel, du wartest hier wohl auf deinen Chef?“

Es war mir peinlich, ihm sagen zu müssen, daß ich kein Kraftfahrer bin, und so antwortete ich:

„Ich muß hier auf jemand warten.“

„Kommt er vom dortigen Ufer?“

„Ja.“

„Weißt du nicht, ob das Boot bald hier sein wird?“

„Ungefähr in zwei Stunden.“

„Ziemlich lange. Na, macht nichts, ruhen wir uns aus, ich habe keine Eile. Wie das so ist, ich komme vorbei und sehe, da aalt sich ein Kumpel von mir. Geh mal hin, sag’ ich zu mir, rauchen wir eine zusammen. Allein rauchen ist fast ebenso schlimm wie allein sterben. Oho, du hast es ja dick, du rauchst Zigaretten! Sind aber naß geworden, was? Na, mein Lieber, ausgelaugter Tabak ist wie ein kurierter Gaul, beide taugen nichts mehr. Wir wollen lieber meinen Knaster rauchen.“

Er holte aus der Tasche der feldgrünen Sommerhose einen himbeerroten Tabaksbeutel heraus, der recht abgegriffen war, und rollte ihn bedächtig auf, so daß ich die gestickte Aufschrift lesen konnte: „Dem Frontkämpfer in Liebe von einer Schülerin der sechsten Klasse der Lebedjansker Oberschule.“

Wir rauchten den kräftigen Eigenbau und schwiegen lange. Ich wollte schon fragen, was ihn bei dieser Wegelosigkeit über Land treibe und wohin er mit dem Kind gehe, als er mir mit der Frage zuvorkam:

„Sag mal, hast du den ganzen Krieg am Steuer verbracht?“

„Fast den ganzen.“

„An der Front?“

„Ja.“

„Ich, lieber Freund, habe den bitteren Kelch auch bis zur Neige leeren müssen.“

 

©Edition Büchergilde©

Literaturangabe:

SCHOLOCHOW, MICHAIL: Ein Menschenschicksal. Aus dem Russischen von Otto Braun. Edition Büchergilde, Frankfurt/Main 2009, 112 S., 12.90 €.

Weblink:

Edition Büchergilde

 


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