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„Schonungslose Analyse“ des Schulsystems

Joachim Bauers Perspektiven zur Schulpolitik in„Lob der Schule“

© Die Berliner Literaturkritik, 07.01.08

 

HAMBURG (BLK) – Joachim Bauer gehe in „Lob der Schule“ der Frage nach, warum immer mehr Kinder trotz erhöhter Anstrengungen der Lehrkräfte am Bildungsprozess scheiterten, schreibt der Hoffmann und Campe Verlag.

Die kritische Studie des Psychotherapeuten basiere auf neurobiologischen Erkenntnissen. Sie sei eine „schonungslose Analyse“, weise mit ihren Perspektiven aber auch in eine andere Richtung als „die bürokratischen Verschlimmbesserungen im Gefolge der Pisa Studie“, meint der Verlag. Wer in Kindern Motivation wecken wolle, müsste gelingende Beziehungen mit ihnen herstellen können. Bauer zeige die sich daraus ergebenden Konsequenzen für Eltern, Lehrer und die Schulpolitik.

Joachim Bauer ist Medizinprofessor und Psychotherapeut. Er ist sowohl für Innere Medizin als auch für Psychiatrie habilitiert. Für seine neurobiologischen Forschungsarbeiten erhielt er den renommierten Organon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie. (wag/wip)

 

Leseprobe:

© Hoffmann und Campe Verlag ©

Alle reden von der Schule,

und keiner tut was dagegen!

Aus Schülermund

1 Schüler verstehen – eine „Neurobiologie der Schule“

Ein »Lob des Regens« hat noch keine Wüste in fruchtbares Land verwandelt. Ebenso wenig wird ein »Lob der Disziplin«, wie es manche derzeit gern singen, zu mehr Disziplin und Lernkultur an unseren Schulen führen. Dieses Buch, das – trotz der beschränkten Effekte von Lobgesängen – den Titel »Lob der Schule« trägt, ist keine

Bekenntnisschrift, sondern ein Sachbuch. In der Schule geht es um Köpfe, um Geist, Kreativität, Motivation und um ein kooperatives Miteinander, und das heißt: um dynamische Phänomene, die allesamt eine neurobiologische Grundlage haben. Gibt es eine „Neurobiologie der Schule“?

Mein Buch will allen, die die Schule zu einer lebendigen und menschlichen Bildungsstätte machen wollen, etwa das geben, was ein Buch über Brunnenbau und Bewässerung für diejenigen wäre, die es sich zum Ziel gesetzt haben, ein von Austrocknung bedrohtes Stück Land fruchtbar zu erhalten. Selbstverständlich erfordern die Abläufe in der Schule ein Mindestmaß an Disziplin, jenem Desiderat, dem der langjährige Leiter der „Schule Schloss Salem“, Bernhard Bueb, 2006 ein ganzes Buch gewidmet hat. (Bernhard Bueb: Lob der Disziplin. Eine Streitschrift, List, Berlin 2006.) Wer es aber einfach dabei belässt, von Kindern mehr „Respekt“ und für Eltern und Pädagogen mehr „Autorität“ zu fordern, ohne zu sagen, auf welchen Voraussetzungen Respekt und Autorität gründen, macht es sich zu leicht. (Der ZEIT-Journalist Reinhard Kahl bemerkte: „Wenn Bueb anfängt, Disziplin und Gehorsam zu predigen, riecht es zuweilen nach Pulverdampf und Generationenkrieg „ (siehe „Erwachsen werden. Oder die Entdeckung der Erziehung“, DIE ZEIT 40/2006 vom 27. September 2006).) Aus den Verhältnissen einer Schule für Jugendliche aus überwiegend privilegierten Elternhäusern, einer Schule, an der Schülerinnen und Schüler von früh bis spät intensive Erziehungs- und Bildungsangebote wahrnehmen dürfen bzw. müssen(siehe den lesenswerten Bericht des Sprechers der Kollegstufe des Internats Schloss Salem, Dustin Klinger: „Dr. Bueb ist kein Lackaffe. Ein Schüler antwortet seinem Lehrer, nachdem er zwei Jahre lang dessen Erziehung genossen hat“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18. Januar 2007), lassen sich keine allgemein gültigen Lehren für das öffentliche Bildungssystem ziehen, das uns heute Sorgen macht.

Dieses Buch soll Schülern, Eltern, Lehrern, aber auch anderen, die junge Menschen und das System Schule fördern wollen, lebensnahe Hinweise geben, wie der Nährboden aussehen muss, auf dem Liebe zum Leben, Motivation und die Lust am Lernen wachsen können. Wer ein Haus bauen will, dem ist nicht damit gedient, dass ihm Dutzende von Leuten Hunderte von Möglichkeiten ausmalen, die schön sich so ein Haus einrichten ließe, wenn im kein Ingenieur oder Architekt zur Seite steht, der weiß, mit welchen Materialien und welcher Konstruktion sich ein stand- und sturmfestes Gebäude errichten lässt. Nichts anderes gilt für die »Konstruktion« eines Systems namens Schule. Es gibt zahlreiche Wege, eine gute Schule zu realisieren. Was aber in ihr wie in jeder Bildungsinstitution wirklich zählt, ist jene Kompetenz, die im Falle eines Hausbaus vom Ingenieur oder Architekten erwartet werden muss. Der Bedeutung, die dort der Statik zukommt, entspricht im System Schule 1. die Motivation zum Erwerb von Bildung, 2. der Wille zur Kooperation zwischen Lernenden, Lehrenden und Eltern und 3. die Fähigkeit von Lehrern und Schülern, im Unterricht eine Beziehung zu gestalten, die Lehren und Lernen möglich macht. Doch wer kennt sich mit diesen drei dynamischen Größen aus?

Motivation, kooperatives Verhalten und Beziehungsgestaltung sind Faktoren, die neurobiologisch verankert sind. Folglich brauchen wir – und dies ist ein neuer Ansatzpunkt – eine „Neurobiologie der Schule“. Welche Perspektiven sich aus ihr ergeben – für Schüler, Lehrer und Eltern, aber auch für die Schulpolitik und die Gesellschaft als Ganzes –, wird Thema dieses Buches sein. Die Neurobiologie hat weder Deutungshoheit noch einen Alleinvertretungsanspruch zu erheben. Keine Frage: Das Thema Schule erfordert die Beiträge vieler Disziplinen. Wir brauchen das Wissen von Entwicklungspsychologen, die Auskunft darüber geben können, was Kinder und Jugendliche – bezogen auf ihr jeweiliges Alter – begreifen und leisten können. Natürlich braucht die Schule auch Experten für Didaktik, die wissen, wie man Lerninhalte so präsentiert, dass sie für Schüler interessant, lebensnah und verständlich sind. Die Entwicklung des Systems Schule braucht vor allem erfahrene, souveräne Lehrkräfte, die ihre Schülerinnen und Schüler mögen und in der Lage sind, in der Manege des Klassenzimmers zu bestehen. Und natürlich benötigen wir Standards, an denen sich Schulen bundesweit orientieren können und an denen sich die Leistungen von Schülern messen lassen. Doch das alles – und manches mehr, was hier nicht erwähnt wurde – reicht nicht aus. Denn Standards gibt es seit langem (sie waren bisher nur nicht bundeseinheitlich definiert). Ebenso verfügen wir seit Jahren über ein fast lückenloses entwicklungspsychologisches Wissen. Auch an didaktischen Kenntnissen herrscht kein Mangel, Dutzende von Lehrstühlen haben sich in Deutschland darauf spezialisiert.

Und doch – trotz all dieser Bemühungen und Investitionen sind wir mit einem Phänomen konfrontiert, für das unsere Gesellschaft bereits jetzt einen hohen Preis zahlt und in Zukunft einen noch viel höheren Preis zahlen wird. Große Teile des deutschen Schulsystems stecken in einem allseits bekannten und dennoch beharrlich fortbestehenden Desaster. Dieses System entlässt Schulabgänger, die zu einem hohen Anteil weder für eine weiterführende Ausbildung tauglich noch aufs Leben vorbereitet sind. Knapp zehn Prozent der Jugendlichen eines Jahrgangs verlassen die Schule alljährlich ohne jeglichen Abschluss. Bei diesen jungen Leuten – aber auch bei vielen mit Schulabschluss – sind die zehn oder mehr Jahre ihrer Schulzeit abgetropft wie Wasser an einer Teflonschicht. Wir lassen heute einen Teil unserer Jugendlichen – vor allem jene aus der nicht privilegierten, nicht bildungsbürgerlichen Mehrheit der Bevölkerung – in einer Situation heranwachsen, in der kaum jemand Interesse an ihrer schulischen und persönlichen Entwicklung zeigt und in der sie zunehmend – dies gilt insbesondere für männliche Heranwachsende – in eine Stimmung von Aussichtslosigkeit, Zynismus, Verachtung und Gewalt geraten. Viele Schulversager wären in der Lage, an der Spielekonsole eines Computers jeden PISA-Test mit Bravour zu bestehen, vorausgesetzt, es gäbe einen PISA-Test für Killerspiele. Kurz, ein Großteil eines jeden Jahrgangs nimmt aus der Schule nichts von dem mit, was einen Menschen fit fürs Leben macht: Selbstvertrauen und Motivation, fachliches Basiswissen sowie soziale und emotionale Kompetenz.

© Hoffmann und Campe Verlag ©

Literaturangaben:
BAUER, JOACHIM: Lob der Schule. Sieben Perspektiven für Schüler, Lehrer und Eltern. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007. 142 S., 12,95 €.

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