Von Roland H. Wiegenstein
Auf sechs Typoskript-Seiten (von fremder Hand, sie ergeben sechzehn großzügig gedruckte Buchseiten) ist ein womöglich ursprünglich längeres „Tagebuch“ erhalten, das die 1926 geborene Ingeborg Bachmann 1944/45 geschrieben hat. Diese Aufzeichnungen haben zwei Teile. Einen, der sich mit den Tagen vor dem Einmarsch der Alliierten nach Kärnten befasst. Die nicht einmal Achtzehnjährige beschreibt, wie sie die Bombenangriffe der Alliierten erlebt (sie geht in den Garten statt in den Keller) und wie sie sich den Ansinnen der Naziführung, noch „Kriegsdienst“ zu leisten, listig entzieht: „Nein, mit den Erwachsenen kann man nicht mehr reden“. Diese von Austriazismen wimmelnden Zeilen zeigen quasi noch ein Kind, das staunend in die Welt blickt. Nur ganz wenige Stellen weisen auf die spätere Bachmann hin, etwa der ungeheuerliche Satz: „Was wirst du tun Gott, wenn ich sterbe…“
Der zweite Teil handelt von Jack Hamesh, einem englischen Besatzungssoldaten, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, der kurz vor dem Krieg mit einem Transport jüdischer Kinder von Wien nach England verschickt wurde und so der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs entkommen war. Der junge Mann besucht die junge Frau, verliebt sich offenbar in sie. „Wir sind auf der Bank gesessen und ich habe so furchtbar gezittert wieder im Anfang, dass er denken hat müssen, ich bin verrückt oder ich habe ein schlechtes Gewissen oder weiss Gott was.“ Sie haben geredet, über Literatur (über Thomas Mann zum Beispiel) und ihr jeweiliges Schicksal. „Wir haben bis zum Abend geredet, und er hat mir die Hand geküsst, bevor er gegangen ist. Noch nie hat mir jemand die Hand geküsst. Ich bin so verdreht und glücklich, und wie er fort war, bin ich auf den Wallischbaum gestiegen, es war schon dunkel, und ich hab geheult und mir gedacht, ich möchte mir nie mehr die Hand waschen.“
Für sie ist das Kriegsende die Befreiung, das Glück und Jack Hamesh dessen Statthalter, mit dem sie auch in dem braunen Nest Vellach Hand in Hand über die Straße spaziert, obwohl sich die Leute das Maul zerreißen über diese Inge, die da mit einem „Jud“ herumläuft: Sie hat das wohl als eine demonstrative Geste der Abnabelung vom Elternhaus (vor allem vom nazistischen Vater) begriffen.
Es brauchte die ganze gelehrte Bachmann-Kenntnis des Herausgebers Hans Höller, um aus den offenbar rasch hingeworfenen Zeilen des Tagebuchs die Urzelle zu einigen von Ingeborg Bachmanns späteren Werken, etwa dem fragmentarischen „Buch Franza“ und „Malina“ zu entdecken, in dem Erinnerungen an ihren „schönsten Sommer“ aufblitzen. Insofern haben diese wenigen Seiten einen biografisch triftigen Hintergrund.
Der wird verstärkt durch die erhaltenen Briefe, die Jack Hamesh, aus der britischen Armee entlassen und nach Palästina ausgewandert, seiner Jugendliebe ab 1946 geschrieben hat: Briefe, die von der Einsamkeit des jungen Mannes zeugen, seiner Schwierigkeit, sich in einer neuen Umgebung zurecht zu finden, von der Sehnsucht nach „Heimat“, die er wohl bei Bachmann und ihrer Familie gefunden haben muss, von seiner Liebe zu der jungen Frau, die längst in Graz Philosophie studierte. 1947 brechen auch diese Briefe ab, was aus ihrem Schreiber geworden ist, ließ sich offenbar nicht mehr eruieren. Der glückliche Sommer blieb eine Episode. Diese Episteln eines jungen Mannes, der sich trotz seiner literarischen Bildung mit dem Deutschen, das er so lange nicht gesprochen hatte, schwer tut, sind ein bewegendes Zeugnis der Unordnung und Einsamkeit der „Kriegskinder“.
Das schmale Bändchen, das zu Bachmanns Biografie lediglich ein kleines Detail hinzufügt, würde man unter normalen Umständen wohl in irgendeinem Anhang jener kommentierten Bachmann-Gesamtausgabe finden, die der Suhrkamp Verlag plant. Aber da die Rechte der Bachmann-Werke noch bei Piper liegen, erschien es opportun, nach dem Briefwechsel Bachmann-Celan wieder etwas auf den Markt zu bringen, und seien es nur (einschließlich Kommentar) gerade mal hundert Seiten. Die freilich sind gut zu lesen.
Literaturangabe:
BACHMANN, INGEBORG: Kriegstagebuch. Herausgegeben und kommentiert von Hans Höller. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 108 S., 15,80 €.
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