Von Stephan Maurer
NÜRNBERG (BLK) – „Ich war Nazi und bin trotzdem Mensch geblieben. Ich habe Vernichtungslager mitgeplant - aber mit Anstand.“ Ungeheuerliche Worte lässt der österreichische Autor Franzobel (42) einen Unbelehrbaren in seinem neuen Theaterstück „Große Kiste oder das Spiel vom Zeugen“ sprechen. Die grelle Satire auf Schuld und Verdrängung, auf menschlichen Egoismus, Gier und Geilheit wurde am Freitagabend (11.12.) vom Staatstheater Nürnberg uraufgeführt und ungeachtet einiger Längen mit viel Beifall aufgenommen.
Das Stück greift eine bizarre historische Begebenheit auf: 1945 hatten die Amerikaner in einer Nürnberger Villa Täter und Opfer des Nazi-Regimes gemeinsam einquartiert. Hitlers Fotograf Heinrich Hoffmann war darunter oder Henriette von Schirach, die Frau des ehemaligen „Reichsjugendführers“ Baldur von Schirach.
Sie warteten dort als Zeugen auf ihre Vernehmung in den Nürnberger Prozessen gegen die nationalsozialistischen Kriegsverbrecher, konnten sich nicht aus dem Weg gehen und bildeten teils für Monate eine „Zwangsfamilie“. Passenderweise wird das Stück in der von den Nazis erbauten monumentalen Kongresshalle aufgeführt, die dem Theater während der Sanierung des Schauspielhauses zurzeit als Ausweichquartier dient.
Was damals in der Villa im Nürnberger Stadtteil Erlenstegen passierte, hatte die Journalistin Christiane Kohl recherchiert und 2005 in ihrem Buch „Das Zeugenhaus“ veröffentlicht. Franzobel hat daraus im Auftrag des Nürnberger Theaters ein ebenso turbulentes wie bitteres Spiel gemacht, in dem Fakten und Fiktion ineinander verschmelzen.
Von Pflichterfüllung schwadronieren die Nazi-Täter und Mitläufer und sind nur kurz irritiert, als in ihrer fidelen Truppe zwei KZ-Überlebende erscheinen, die sich nicht über das Wetter unterhalten wollen, sondern die erlittenen Gräuel herausschreien, ja sich wie Clowns darin schier überbieten. Auch die Grenzen zwischen Guten und Bösen, zwischen Opfern und Tätern verschmelzen.
Buchautorin Kohl hatte sich unmittelbar vor der Uraufführung von der Bühnenfassung distanziert, da diese die Trennlinie zwischen historischer Wahrheit und Fiktion nicht deutlich genug sichtbar mache. Franzobel sagt dagegen, es stecke sehr viel vom „Zeugenhaus“ in seinem Stück. „Ich habe mir also gewissermaßen das Zeugenhaus angeeignet, um mit aller dichterischer Freiheit etwas Paradigmatisches zu erschaffen, ein Stück über den Umgang mit Schuld“, erklärt er im Programmheft.
Doch Franzobel wäre nicht Franzobel, würde er nicht auch schrille, groteske Situationen auf die Bühne bringen - mit Schweinemasken vorm Gesicht feiern die Bewohner einen wilden Karneval. Es wird geschrien, gesoffen und gevögelt, und alle umschleichen die große Kiste, in der sich das „Judengold“ befinden soll, am Schluss aber ein Toter liegt. Das 13-köpfige Ensemble bringt das Stück (Regie: Kay Neumann) mit viel Engagement auf die Bühne. Dass zwei Rollen wegen Erkrankung sehr kurzfristig neu besetzt werden mussten, war kaum zu bemerken.