DÜSSELDORF (BLK) – Im Juni 2010 erschien Emmanuel Boves Roman „Schuld“ im Lilienfeld Verlag erstmalig auf Deutsch.
Klappentext: Der junge Pierre Changarnier ist arm, hat Fieber und will trotz allem mit seiner Freundin Violette im winterlich nächtlichen Paris das Glück finden – aber der Abend wird zu einem seltsamen Erlebnis: Das Paar hört die Bekenntnisse eines Mörders, der nie bestraft wurde, Changarnier phantasiert sich in eigene Schuldvorstellungen hinein und landet schließlich als Verdächtiger auf dem Kommissariat. Ein Raubmord ist aufzuklären, und auf Changarnier und Violette passen die Beschreibungen… Der kleine Roman „Schuld“ ist ein besonderes Kleinod aus dem Werk des großen französischen Romanciers Emmanuel Bove (1898-1945), in dem dessen zentrales Thema von Schuld und Sühne en miniature ausgeleuchtet wird.
Emmanuel Bove wurde 1898 in Paris geboren und starb dort 1945. Seine Kindheit war von großer Armut gekennzeichnet, seine Jugend verbrachte er in diversen Internaten, u. a. in England und in der Schweiz. Jahrelang verdingte er sich in verschiedenen Gelegenheitsjobs – als Kellner, Taxifahrer, Hilfsarbeiter. Sein literarischer Durchbruch fand 1924 statt mit seinem Romanerstling „Mes amis“ (dt.: „Meine Freunde“, 1981), der von Colette lebhaft unterstützt wurde. In den darauffolgenden zwei Jahrzehnten kam es zu einer enormen Produktion von Romanen und Erzählungen. Nach 1945 geriet Bove dann vollkommen in Vergessenheit und wurde in Frankreich erst in den späten 70er, in Deutschland ab den 80er Jahren zuerst durch Peter Handke wiederentdeckt. (jos)
Leseprobe:
©Lilienfeld Verlag©
Changarnier setzte sich in den einzigen Sessel seines elenden Zimmers. Seit dem Vortag schneite es, und die Schneeflocken setzten sich auf die Fensterscheiben wie Insekten auf eine Wand.
Changarnier blickte auf seine abgenutzten Schuhe. „Ich werde nasse Füße bekommen, wenn ich auf die Straße gehe“, dachte er, „aber wenn ich hierbleibe, was soll ich dann machen?“ Er stand auf, zündete sich eine Zigarette an. Er hatte keinen Durst und wollte dennoch trinken. Er hatte keinen Hunger und wollte dennoch essen. Er warf die Zigarette fort, denn er hatte keine Lust zu rauchen. In der kalten Luft seines geschlossenen Zimmers machte sich ein abgestandener Geruch breit. „Ich bin ja schließlich keine Null“, murmelte er. Er ging zu einem Spiegel. „Du! Eine Null!“ Unerwartet schroff, so als hätte er unhöflich sein wollen, wandte er seinem Spiegelbild den Rücken zu und zögerte dann ein paar Sekunden lang. Er wußte nicht, was er tun sollte. Sich wieder hinsetzen? Er hob die fortgeworfene Zigarette auf, zündete sie erneut an. „Wo bin ich?“ fragte er sich, lächelnd. Schließlich ließ er sich in den Sessel fallen.
Ein paar Minuten döste er vor sich hin, als jemand an die Tür klopfte.
„Was gibt’s denn?“ fragte er wie mechanisch. „Ich bin’s“, antwortete eine Frauenstimme. Er ging die Tür öffnen und stand einer kränklich wirkenden jungen Frau gegenüber, die sich ihres heruntergekommenen Zustands anscheinend noch nicht klar geworden war. Abermals zündete Changarnier seine Zigarette an und musterte die soeben Gekommene mit spöttischem Blick.
„Schämst du dich eigentlich nicht, so heruntergekommen zu sein?“ fragte er. „Schämst du dich nicht, bei allen Leuten, die dich kennen, Mitleid zu erregen? Besitzt du denn kein bißchen Würde? Lebst du denn wie ein Tier? Wenn ein Mann dir etwas zu trinken spendieren würde, würdest du mitgehen. Er könnte dich in ein Dreckszimmer wie dieses hier führen und du würdest ihm immer noch folgen. Du willst von ihm nichts im voraus, aber dann, hinterher, versuchst du, diesem satten Glückspilz ein paar Scheine aus der Tasche zu ziehen. Und trotzdem lebst du, und du hast den perfekten Körper eines Menschen, fünf Finger an jeder Hand, fünf Zehen an jedem Fuß. Du armseliges Ding! Begreifst du nicht, daß es auf dieser Welt noch etwas anderes gibt als diese Erbärmlichkeit, in der du vegetierst? Begreifst du nicht, daß es ein höheres Sein gibt?“
Die gerade erst Eingetroffene hörte dieser Tirade unbeeindruckt und ohne zu unterbrechen zu. Sie trug einen gefärbten, billigen Kaninchenmantel, an dem die Knopflöcher eingerissen waren. Ihr Kopf war von einer Mütze bedeckt. Diese schlichte Aufmachung gab dieser mit Sarkasmus überschütteten Frau eine noch dramatischere Note. Changarnier indes schien für dieses Drama unempfänglich zu sein, er folgte einer fixen Idee. Sein Elend, seine Untätigkeit, sein Desinteresse an allem machten ihn unempfindlich für das Leiden anderer.
„Du bist ein armes Wrack“, fuhr er fort. „Du hast nicht einmal Respekt vor dir selbst. Richtig?“ Zustimmend nickte sie leicht mit dem Kopf. „Du könntest arbeiten wie jeder andere. Warum tust du es nicht? Lieber bettelst du, nimmst Drohungen und Schläge in Kauf, gibst dich für jeden dreckigen Mistkerl her.“
Violette fing an zu weinen. Das Bild, das der junge Mann von ihr zeichnete, überraschte sie nicht. Wenn sie sich Mühe gab nachzudenken, dann war das, was er soeben gesagt hatte, genau das, was sie selbst von sich dachte. Doch in der Regel zog sie es vor, gar nicht zu denken.
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Literaturangabe:
BOVE, EMMANUEL: Schuld. Lilienfeld Verlag, Düsseldorf 2010. 120 S., 17,90 €.
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