Von Ira Schaible
Sechs in ihrer Heimat gescheiterte Existenzen suchen im abgeschiedenen Hinterland Afrikas ihr Glück. Aus unterschiedlichen Gründen in der „fortschrittlichsten und friedlichsten Kolonie Deutschlands“ gestrandet, verfolgen sie ein gemeinsames Ziel: Den Aufbau einer Siedlung im fiktiven Tola. Die deutschen Kolonien des Kaiserreichs sind - selten in der deutschen Literatur - die Kulisse für Thomas von Steinaeckers neuen Roman „Schutzgebiet“; der Titel geht auf die offizielle Bezeichnung der Kolonien (deutsche Schutzgebiete) vor dem Ersten Weltkrieg zurück.
Dem 1977 geborenen Autor geht es dabei aber nicht - wie Uwe Timm in „Morenga“ (1978) oder Gerhard Seyfrieds „Herero“ (2003) – vor allem um eine analytische Auseinandersetzung mit diesem Kapitel deutscher Geschichte. Sein Roman liest sich vordergründig vielmehr wie eine Abenteuergeschichte. Zugleich befasst sich von Steinaecker in seinem dritten innerhalb von drei Jahren vorgelegten Roman („Wallander lernt fliegen“, „Geister“) erneut satirisch mit Wirklichkeitsflucht, ihren Ursachen, Ausprägungen und Folgen.
Verwalter des „Schutzgebiets“, der Festung Benasi, ist der Holzhändler Ludwig Gerber, der aus einem angesehenen niederbayerischen Holz-Imperium stammt, den Ansprüchen seines mächtigen Vaters aber nie gerecht wurde. Heilung sucht Gerber darin, die Steppe mit typisch deutschem Mischwald aufzuforsten, der in dem afrikanischen Klima angeblich schneller wächst. Zusammen mit einheimischen Arbeitern und deutschen Siedlern will er eine konkurrenzfähige Forstwirtschaft aufbauen.
Heimliche Chefin der Festung ist seine Schwester, die zunächst schöne, bald alternde Käthe, die nach einer gescheiterten Ehe vor allem Halt sucht. Die einzige Frau in dem Sextett hängt einem esoterischen Suk-Kult an, den sie in der Siedlung verwirklichen will. Zugleich experimentiert sie mit allen Arten von Drogen - zusammen mit dem rauschgiftsüchtigen Ex-Society-Arzt Dr. Brückner.
Im Mittelpunkt der Glücksritter steht der junge deutsch- amerikanische Architekt Henry Peters, verwöhnter Sohn eines wohlhabenden Immobilienhändlers, der aus seinem noblen Leben ausgebrochen ist, um als Assistent des Architekten Gustav Selwin die Siedlung zu bauen. Das Schiff, was ihn zusammen mit Selwin, seiner Frau, Siedlern und Kastanien-Setzlingen nach Afrika bringen soll, geht unter. Außer Henry, der sich künftig als Selwin ausgibt, überlebt keiner. Nach einer Phase des Lebens bei den „Wilden“ entwirft der Gestrandete eine kreisförmige Modellstadt in der direkten Nachbarschaft, die so aber niemand will. Henry und Käthe fühlen sich zueinander hingezogen, finden aber genauso wenig zusammen wie Henry zuvor zu seiner Frau.
Zu der Gruppe gehört noch der einfältige Offizier Schirarch, der mit üblem Drill aus einigen Eingeborenen ein preußisches Heer machen will, und auf den Besuch des Kaisers hofft. Der sechste im Bunde ist der Forscher Rüdiger Lautenschlager, der sich sowohl für Schmetterlinge wie für Eingeborene interessiert.
Humorvoll, ironisch und skurril schildert von Steinaecker in 19 Kapiteln die Sehnsüchte, Kränkungen und Schwächen seiner Protagonisten. Sie verlieren sich, hängen ihren Träumen und Hirngespinsten nach, wobei die Wahrnehmung der Wirklichkeit zunehmend verloren geht, bis der Ausbruch des Ersten Weltkriegs - mit leichter Verzögerung - alles zerstört.
Wie schon in seinen beiden ersten Werken montiert der Literaturwissenschaftler, Hörspiel- und Dokumentarfilmautor erneut verschiedene Elemente in seine Geschichte über das groteske Kolonialprojekt. Diesmal verzichtet er dabei zwar auf Comic-Elemente, greift aber immer wieder zu Afrika-Klischees inklusive Kannibalen-Tod im Kochtopf. Dazu kommen literarische Zitate, überspitzte Überlegenheitsfantasien und Gesellschaftskritik. Somit ist sein gut lesbares Buch zugleich historischer Roman, Abenteuergeschichte und facettenreiche Satire.
Literaturangabe:
STEINAECKER, THOMAS: Schutzgebiet. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 2009. 384 S., 19,90 €.
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