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„Schweigeminute“ von Siegfried Lenz – Mehr als eine Liebesnovelle

Eine melancholisch-berührende Geschichte

© Die Berliner Literaturkritik, 08.05.08

 

Von Matthias Hoenig

Mit 82 Jahren legt Siegfried Lenz erstmals eine Love-Story vor. Der bedeutende Nachkriegsautor so großer Romane wie „Deutschstunde“ (1968) und „Heimatmuseum“ (1978) über historische Schuld und das Trauma Vertreibung wagt sich an ein lange von ihm gemiedenes Thema. In der schmalen Novelle „Schweigeminute“, die an diesem Donnerstag (8. Mai 2008) in hoher Startauflage in den Buchhandel kommt, geht es um die Liebe eines 18-jährigen Gymnasiasten und seiner etwa 30-jährigen Englischlehrerin. Die Handlung spielt noch zu D-Mark-Zeiten in Schleswig-Holstein, und die Protagonisten hören Musik von Ray Charles, Benny Goodman oder tanzen zu „Spanish Eyes“.

Es ist eine melancholisch-berührende Geschichte, nicht nur, weil sie, kaum angefangen, tragisch endet. Während der Totenfeier für Stella in der Schule erinnert sich Christian, wie ihre Liebe wuchs. Wie beide sich, wie magisch angezogen, näher kamen – schüchtern anfangs beim Strandfest – später dann unter Wasser tauchend einander fest umklammerten und sich am Strand unter den Kiefern liebten. Wie er für sie mit Regenwasser Kamillentee kochte, in der Schildhütte auf der Vogelinsel, als sie vom Unwetter überrascht wurden. Und wie der Entschluss bei Christian keimte, ein gemeinsames Leben aufzubauen – bis Stella bei einem Unwetter bei einem Bootsunfall lebensgefährlich verletzt wird.

Es könnte der Stoff sein für einen Kitschroman oder Voyeure. Nichts dergleichen. Lenz, der virtuose Stilist, durchwirkt die Novelle mit mehreren Leitmotiven. Es geht um existenzielle Grundweisheiten: Dass Gefühle nicht steuerbar sind, sich Liebende – hier immerhin in der verbotenen Konstellation von Schüler und Lehrerin – gegen das, was kommt, sich nicht wehren können. Es geht aber auch immer wieder um den Kontrast von lebensfroher Jugend und beschwerlichem Alter.

Teils humorvoll, aber auch drastisch beschreibt Lenz alte Menschen, die die Geschichte begleiten. Den Vogelwart, der wegen seines Rheumas nicht mehr rudern kann und sich abschleppen lassen muss, die Pfeife mit gichtgekrümmten Fingern umklammernd. Oder Stellas Vater, dem sie Brot und Schüsselchen hinstellt und ihm zusieht, „wie er aß. Schnell aß, mit erkennbarem Altershunger oder sogar einer Altersgier.“ Symbolträchtig diese Beschreibung: „Auf eingeholten Seezeichen, die einen Schutzanstrich bekommen sollten, saßen alte Männer, sie sprachen wenig miteinander, sie begutachteten die Vorbereitungen für das Strandfest und entsannen sich wohl vorangegangener Feste. Keiner von ihnen erwiderte meinen Gruß“, lässt Lenz den jungen Christian in der Form des Ich-Erzählers berichten. Mit Wortkaskaden beschreibt Lenz auf der anderen Seite das fröhliche Treiben jugendlicher Schwimmer, die beim Tauchen nach Münzen sich wie Delfine im Wasser tummeln.

Wer in der 20-bändigen Werkausgabe von Lenz nach Sexpassagen sucht, wird nicht fündig. In dieser Novelle beschreibt Lenz zuweilen in sanfter Erotik die Gefühle des 18-Jährigen: „Ein unruhiges Verlangen, das in meiner Vorstellung immer heftiger zu werden begann, ließ mich sie berühren, ich streichelte ihre Schenkel, und dabei suchte ich ihren Blick, unsere Gesichter waren so nah, dass ich ihren Atem spürte.“

Die Liebe zwischen Christian und Stella scheint wie vom Himmel gefallen zu sein. Lenz verheddert sich nicht in Beziehungsproblemen oder langen Dialogen. Die Novelle ist aus der Sicht von Christian und seinen Gefühlen zu Stella geschrieben – und schildert sein Erwachsenwerden. Warum die Lehrerin Christian liebt, bleibt relativ blass. Die Liebe der beiden wird auch nicht als gesellschaftlicher Skandal inszeniert. Lenz nimmt die junge Liebe als Metapher für das aufblühende Leben – und seine Gefährdung.

Die Stilform der Novelle schafft Lenz die Möglichkeit, seine sprachliche Meisterschaft voll zu entfalten. Die symbolträchtigen Beschreibungen von Wetter, Meer und Wellen fesseln den Leser, ebenso die Genauigkeit beim Beschreiben der Steinfischer, wie sie große Steine vom Meeresgrund fischen und damit die Wellenbrecher zum Schutz des Hafens bauen. Lenz, der nach dem Krieg bei den Engländern als Hilfsdolmetscher arbeitete, sucht immer wieder englische Wörter, um Gefühle möglichst genau zu beschreiben. Die letzte Postkarte, die Christian von Stella bekam, umfasst nur einen Satz: „Love Christian, is a warm bearing wave.“ Es scheint, als wolle Lenz, der selber seit langem krank ist und vor zwei Jahren seine Frau verlor, mit der Novelle zumindest in der Erinnerung die Jugend vergegenwärtigen – eine Wehmut, die viele treue Lenz-Leser gern mit ihm teilen werden.

Literaturangaben:
LENZ, SIEGFRIED: Schweigeminute. Novelle. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2008. 128 S., 15,95 €.

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