Von Elke Vogel
Es sind die kleinen Momente im großen Weltenlauf, die der Franzose Jean-Jacques Sempé seit Jahrzehnten in seinen Zeichnungen festhält. Mal mit zärtlichen, mal mit leicht schmerzlichen Gefühlen schaut er dem kleinen Menschen beim Überlebenskampf zwischen Arbeitswelt und Privatleben zu. Und obwohl der Betrachter meist über die freundlichen Figuren in alltäglichen wie absonderlichen Situationen schmunzeln muss, schimmert immer deutlich die Einsamkeit und Entfremdung der Sempé-Wesen durch die heiteren, filigranen Werke ihres Meisters. Besonders deutlich wird das bei Sempés mittlerweile mehr als 100 Titelbildern für das US-Magazin „The New Yorker“. Der Band „Sempé in New York“ versammelt erstmals alle seit dem Jahr 1978 für den „New Yorker“ entstandenen Cartoons des heute 77-jährigen Karikaturisten.
Da sind sie zu sehen: die Angestellten, die in ihrer Mittagspause zwar alle denselben Platz in der New Yorker Steinwüste aufsuchen. Dort aber nicht etwa entspannt miteinander plaudern, sondern bei der Akten-Lektüre stumm Fastfood in sich hineinstopfen. Oder die Katze, die auf einem leeren Bett schläft, während in den Büros im Haus gegenüber die Büromenschen eifrig und vereinzelt in ihre Computertastatur hacken.
Der Radfahrer, der mutterseelenallein über die gigantische Brooklyn-Brücke fährt. Und das spazieren gehende Ehepaar, das von einem Polizisten angehalten und gefragt wird, ob denn alles in Ordnung sei - im Hintergrund sind New Yorker zu sehen, die sich ausschließlich in der Trendsportart Joggen fortbewegen.
Doch immer wieder blinzelt den Großstädter mit seiner Sehnsucht nach der Natur unerwartet das Glück an. Etwa wenn ein gediegener, älterer Herr im goldenen Herbstlicht plötzlich wie ein kleiner Junge das am Boden liegende Laub aufwirbelt. Ein anderer Herr genießt auf einer Schaukel auf einem verlassenen Kinderspielplatz den magischen Moment vor dem Sonnenuntergang. Kostbar sind auch die Augenblicke der Konzentration, die Kinder bei den Klavierstunden im behaglichen Salon ihrer Lehrerin erleben.
Überhaupt ist die Kultur neben der Natur für Sempé der zweite Ausgleich, den gestresste Großstädter haben sollten. Niedliche kleine Balletttänzerinnen hat der Schöpfer von „Der kleine Nick“ gezeichnet und ein Konzertabend wird bei ihm zum großen gesellschaftlichen, aber auch die Seelen der Besucher streichelnden Ereignis.
Sempé-Bücher sind grandiose Wimmelbücher für Erwachsene. Sein Blick auf die überfüllten New Yorker Straßen schafft Bilder, die nur so vor Leben im Schatten und im Licht bersten. In ihnen gibt es die Details der menschlichen Existenz zu entdecken, die man im hektischen Alltag allzu oft übersieht. „In New York, da fühlt man sich schon winzig“, sagt Sempé in einem dem Bilderteil vorangestellten, ausführlichen Interview zu seinen Erfahrungen mit der Metropole und seiner Arbeitsweise.
Literaturangabe:
SEMPÉ, JEAN-JACQUES: Sempé in New York. Diogenes Verlag, Zürich 2009 320 S., 49,90 €.
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