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„Sez Ner“ von Arno Camenisch

Tradition und Fortschritt in einer alpinen „Vor-Handy-Zeit“

Von: ANGELO ALGIERI - © Die Berliner Literaturkritik, 06.11.09

„Il paster ed il purtger ein davos stalla e paschan per la biala. Il paster pescha pli lunsch ch’il purtger. Ils radis da pésch tarlischan el sulegl da miezdi. Il purtger di, ei va per la precisiun, gliez ei pli grev. El dueigi inaga empruar da tuccar ils tgaus dallas crestastgiet, per gliez tonschi denton buca pli.“

Die vorliegende Sprache ist weder Esperanto noch eine andere Kunstsprache, es ist Surselvisch. Sie ist die meistgesprochene der fünf romanischen Idiome, die im Kanton Graubünden in der Ostschweiz gesprochen werden. Surselvisch wird laut der letzten eidgenössischen Volkszählung im Jahr 2000 von circa 18.000 Personen im Vorderrhein ab Laax gesprochen.

Der eingangs zitierte Text stammt aus Arno Camenischs deutschem Debüt „Sez Ner“, den er auf Surselvisch und Deutsch im Urs Engeler Editor vorlegt. Sein surselvisches Debüt „ernesto ed autras manzegnas“ veröffentlichte er bereits im Jahr 2005 in der Ediziun Romania.

Und nun die deutsche Entsprechung des oben zitierten Auszugs: „Der Kuhhirt und der Schweinehirt stehen in Stiefeln hinter dem Stall und pinkeln um die Wette. Der Kuhhirt pinkelt weiter als der Schweinehirt, dass der Strahl in der Mittagssonne glänzt. Der Schweinehirt sagt, es geht um die Präzision, das ist schwieriger. Er solle mal versuchen, den Alpenrosenkopf zu treffen, doch dazu reicht es nicht mehr aus.“

Anhand dieses Auszugs ist zu erkennen, dass es sich um einen Text auf dem Land handelt, genauer gesagt auf den Alpen, auf der Alp Stavonas, am Fuße des Piz Sezner im Bezirk Surselva im Kanton Graubünden in der Schweiz. Der im Jahr 1978 in Tavanasa, ebenfalls im Bezirk Surselva, geborene Camenisch beschreibt in seinem Erstling den Zeitraum zwischen Alpaufzug und Alpabtrieb in einer „Vor-Handy-Zeit“. Die Protagonisten sind der Senn – sozusagen der Chef, Viehbeaufsichtiger und Käsehersteller der Alp – der Zusenn, das heißt der Handreicher des Senns, sowie der Kuh- und der Schweinehirte. In dieser Reihenfolge ist auch die Hierarchie zwischen diesen vier Protagonisten zu verstehen.

Camenisch zeichnet in 300 kurzen Absätzen, die zwischen einer Zeile und einer dreiviertel Seite variieren, das Alpleben, indem er die Tätigkeiten der Protagonisten, ihre Macken, ihr Miteinander bzw. Gegeneinander festhält. Es scheint, als ob Camenisch Fotografien aus einem Alpenalbum beschreibe. Dabei hält er auch die dortigen Haustiere fest, als da wären: Hunde, Katzen, Hühner samt Hahn, Schweine, Ziege, Kühe und Bullen.

Camenisch wählt für seine Prosa eine außergewöhnliche Erzählform. Er hat sich gegen den Entwicklungsroman oder die Erzählung gewandt, stattdessen nutzt er kurze poetische Absatzprosa, die er ohne verbindende Elemente aufeinander folgen lässt. Das oben wiedergegebene Zitat zeigt, dass Camenisch in den meisten Absätzen eine ironische Wendung nutzt: Beispielsweise, wie oben zitiert, reicht der Pinkelstrahl nicht aus, oder an anderer Stelle, trinkt eine Kuh namens Amerika viel Wasser, gibt aber wenig Milch. Es gibt auch Beschreibungen, die melancholisch anmuten oder die Alpbewohner zurückhaltend bis feindlich den (arroganten) Touristen gegenüber zeigen.

Es ist also bei Weitem nicht alles Idylle. Camenisch zeigt, dass die Senn-Zunft von immer weniger ansässigen Bewohnern betrieben wird. In einem der zahlreichen Absätze wird von der benachbarten Alp berichtet, dass der Senn von heut auf morgen verschwunden sei. Dem entgegen stehen die Städter, die aus dem Unterland kommen, um die Natur (wieder)zuentdecken und sich als „Senn“ nicht betriebener Alpen zu betätigen. Das beschreibt Camenisch sehr trefflich, da in der Schweiz von Sommer zu Sommer immer weniger Alpen bewirtschaftet werden und die Milch direkt von 1.000 Kühen zählenden Ställen durch eine Melkanlage in die Molkerei eingeflößt wird – während die Milch von geweideten Kühen, die sich von Frischkräutern ernähren, was später den Käse einmalig macht, immer rarer wird.

Tradition trifft auf Fortschritt und Tourismus, wobei nicht immer der Fortschritt Nachteile für die Berge bringt. Infrage gestellt werden auch teils sehr veraltete Moralvorstellungen (z. B. die Trennung von Frauen und Männern in den Kirchenbänken) und patriarchale Strukturen. Camenisch versteht es, diesen fortschreitenden Wandlungsprozess einer der letzten Bastionen traditioneller Käseherstellung zu beobachten: Der ganze Kosmos dieser sich wandelnden Welt entfaltet sich so in Camenischs fragmentierter Prosa, und es gelingt ihr, diesen Prozess dem Leser zu vergegenwärtigen.

Skandalträchtige Sprengkraft à la Adolf Muschgs „Der Zusenn oder Das Heimat“, in dem ein Zusenn vor einem Gericht Rechenschaft über Sex mit seinen Töchtern ablegt, birgt Camenischs Erstling nicht. Man kann dies bedauerlich finden, doch der Student am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne verschönert nichts, verzerrt aber auch nicht. So finden sich, bis auf zwei Ausnahmen, keine Sexszenen (anders als das Vorurteil „auf der Alm gibt’s ka Sünd“ vermuten lässt) – auch keine homoerotischen (immerhin sind vier Männer für einen langen Sommer unter sich) oder sodomitischen Handlungen (wie sie etwa Gavino Ledda in „Mein Vater, mein Herr“ beschreibt, wo sich Hirtenjungen an Schafen und Eseln „ausprobieren“).

Dennoch hat Camenisch einzigartige und wundervolle Prosa geschrieben, die ihren eigenen Rhythmus und ihre eigene Poesie findet – sowohl auf Deutsch als auch auf Surselvisch. Gelungene Literatur kleiner Sprachen, wie dem Surselvischen bzw. Romanischen, zeigt, dass diese weit über eine idyllische Heimatliteratur hinausgehen, verschiedenste Themen ansprechen und, wie Camenisch beweist, eine postmoderne Form finden kann. Eine solche Literatur fördert eine kleine Sprache umso mehr. So ist es auch kein Wunder, dass dieses Debüt bereits drei Monate nach seinem Erscheinen beim Verlag Urs Engeler in seine zweite Auflage geht. Es werden verdientermaßen sicherlich noch mehrere folgen!

Literaturangabe:

CAMENISCH, ARNO: Sez Ner. Romanisch und Deutsch. Urs Engeler Editor, Basel / Weil am Rhein 2009. 215 S., 19 €.

Weblink:

Urs Engeler Editor

 

 

Angelo Algieri ist freier Journalist und Kritiker. Er schreibt für verschiedene Zeitungen und Magazine. Er lebt und arbeitet in Berlin


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