Friedrich Gundolfs Shakespeare-Sonetten-Fragmente von 1899. Hrsg. v. Jürgen Gutsch, Dozwil: Signathur, 2011. 978-3-908141-80-8
Von Stefan Schukowski
Schon das Cover verweist auf die grundlegende dreifache Stoßrichtung dieses Editionsprojekts: Gundolfs Konterfei füllt in typischer George-Pose den Hintergrund – wenn es um Gundolfs Sonett-Übersetzungen geht, kann George nicht fern sein. In starkem Kontrast zum verblassenden Hintergrund hebt sich eine serifenlose reduzierte Helvetica ab, in drei Zeilen steht: „William Shakespeare / Friedrich Gundolf / 49 Sonette“. Wieder ein Verweis auf George. Auf dem Cover der Erstausgabe von dessen „Umdichtungen“ ist in Versalia, der speziellen George-Type, zu lesen: „STEFAN GEORGE / SHAKESPEARE / SONNETTE“. Dort wurden in einer enormen Aneignungsgeste qua Type und Schreibweise die Sonnets dem Kunstwillen Georges (dessen Name noch dazu fetter gedruckt ist) vollständig untergeordnet. Gutschs Cover nun widersetzt sich diesem Gestus, indem es eine möglichst unauffällige Type verwendet, nicht in Versalia schreibt, den Text in den untersten Bereich verbannt. Diese Spannung im Verhältnis von Gundolfs Sonetten-Fragmenten zu Georges Umdichtungen findet hier eine überaus gelungene visuelle Präsentation. Die Erstnennung Shakespeares bei Gutsch zeigt zudem an, dass es insgesamt aber um eine dreifache Bespiegelung gehen wird, in der das Original nicht im reinen bitextuellen Rahmen seiner Übersetzer verschwindet. Denn das Projekt nimmt sich nicht nur eine Rekonstruktion der Übersetzungen Gundolfs, sondern auch deren doppelt intertextuelle Verbindungen zum Ziel.
Dies wird editorisch dadurch erreicht, dass neben dem (emendierten und konjektierten) Basis-Text auch (diesem gegenüber auf der linken Seite) der gescannte (nicht, wie angegeben, faksimilierte) George’sche Text abgedruckt ist und gegenüber dem Textapparat zusätzlich noch der gescannte Originaltext in der von beiden benutzten Shakespeare-Edition wiedergegeben wird. Auf diese Weise entsteht ein vierteiliges Ensemble von Texten verschiedenster Typen und unterschiedlichsten Satzes. Das erlaubt dem Leser wunderbar, in unhierarchisierter Weise von Text zu Text zu springen.
Durch den Abdruck von Georges Umdichtungen könnte der Eindruck entstehen, Gundolfs Übersetzung sei nur herausgebenswert, wenn sie als Vor- oder Nebenarbeit zu George gesetzt wird. Historisch betrachtet, im Rahmen des totalitären George-Kreises, ist dieser Befund auch durchaus zulässig: Gundolf hatte sich mit einigen der Übersetzungen als Achtzehnjähriger bei George vorgestellt (vermutlich hatte er damals bereits ca. 60 Sonette übersetzt, von denen heute noch 49 erhalten sind). Doch er gab seine Übersetzertätigkeit bald auf und stand George ‚nur noch’ als Berater für dessen Übersetzungsarbeit zur Verfügung. Auch Gundolf selber propagierte diese Stellung als „Jünger“ gegenüber dem „Führer“ in seiner Schrift „Gefolgschaft und Dienst“ von 1909, übrigens dem Erscheinungsjahr der George’schen Umdichtungen. Gutsch bemerkt dazu mit adäquatem Zynismus: „Gundolfs Text ist wie gesagt als ‚Opfergabe’ im nicht eben ganz bescheidenen Energie-Haushalt des Kreises verbraucht.“ (16) Doch: Nur weil der Autor selber glaubte, George nachrangig zu sein, müssen wir dies nicht auch glauben. Immerhin machte sich Gundolf als (anti-romantischer) Übersetzer der Dramen Shakespeares in seinem zehnbändigen Werk Shakespeare in deutscher Sprache durchaus einen Namen.
Mit diesem einseitig hierarchisierenden Verhältnis der Sonett-Übersetzungen will und kann die Edition aufräumen, ohne dabei Georges dominante Rolle als Folie ausschließen zu müssen: Der gemeinsame Abdruck wird zwar der literar-historisch geradezu untrennbaren Verbindung gerecht, aber eben nicht wertend, sondern darstellend; Gemeinsamkeiten und Unterschiede werden hier deutlich sichtbar.
Das Projekt ist mithin als Präsentation zweier jeweils eigenständiger Übersetzungen zu verstehen, die zudem noch in einer komparativen Sicht mehr sind als die Summe ihrer Teile.
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Die editionsphilologische Grundidee der enthierarchisierten Vergleichbarkeit ist absolut aufgegangen, nützlich und auf dem neuesten Stand der Texteditionspraxis. Der Apparat ist dabei durchaus reduziert, lässt aber in Anbetracht der relativ homogenen Textzeugen keine Wünsche offen; auch dass „möglichst klarer Text geschrieben und auf manchen formalen Standard klassischer Textedition verzichtet“ wird, ist in diesem Fall kein Manko. Das Vorwort ist sowohl editorische Notiz wie auch informativer einführender Essay. So stellt Gutsch hier richtigerweise gerade auf die Unwägbarkeiten der textkritischen Bearbeitung ab und macht Mutmaßungen immer auch als solche explizit kenntlich.
Die textkritische Aufarbeitung des Gundolf’schen Oeuvres muss nämlich mehr leisten, als die Rekonstruktion eines abgeschlossenen fertigen Textes. Dies ist schon im Hinblick auf die Herstellungsbedingungen gefragt. Hat man es doch mit einem begonnenen, dann aber zugunsten Georges aufgegebenen Projekt zu tun. So macht es sich Gutsch zur Aufgabe, ein „work in progress“ (10) zu präsentieren. Gleichzeitig gibt es jedoch einen Textzeugen, der als Reinabschrift durchaus verbindlichen Charakter besitzt. Dieser jedoch wurde von fremder Hand, wahrscheinlich sogar von George, bearbeitet. Dass dieser Autograph als Basis-Text genutzt wird, leuchtet ein. Der Editor weiß dabei durchaus um die paradoxe Handlungsanweisung, welche die Textlage an ihn stellt, zum einen der Lesbarmachung und zum anderen der Sichtbarmachung des Widerstands der Texte gegen die Abgeschlossenheit, wenn er selbstkritisch bemerkt: „das bedenkliche Schicksal, sich in ein Buch zu verwandeln, ereilt die Texte erst in unseren Tagen.“ (13)
Der entstehende Text hätte dabei trotzdem etwas weniger fertig aussehen können. Seiner eigenen Vorgabe nicht immer folgend, stellt Gutsch manchmal einen doch allzu abgeschlossen dastehenden Text her. Wie Sonett 7, das in den als „Haupt-Text“ (16) benannten Autographen das ‚fehlende’ couplet aus einem anderen Autographen integriert. Dies wird zwar im Apparat angegeben, widerspricht aber dem Bemühen, die Transitorik des Werks wiederzugeben, als nicht immer (ganz) fertiger Text. Dann wiederum bleibt die ‚Komplettierung’ von Sonett 17 aus, und das couplet wird ‚nur’ im Apparat erwähnt. Diese uneinheitliche Handhabung hätte ganz eindeutig im Sinne der Unabgeschlossenheit vereinheitlicht werden müssen.
Neben dieser grundlegenden Problematik, der sich der Editor meist nachvollziehbar stellt, ist natürlich nach der Verlässlichkeit der Wiedergabe zu fragen, zumal nur vier Sonette als verkleinerter Scan abgedruckt werden. Kleine typographische Ungenauigkeiten, wie sie im Vorwort auffindbar sind, würden in einem Buch, das sich nicht einer getreuen textuellen Wiedergabe verpflichtet hätte evtl. nicht zu sehr ins Gewicht fallen. In einer editionswissenschaftlichen Publikation hingegen verweist solches auf eventuelle Ungenauigkeiten auch im textkritischen Teil. Kleinere Formatierungsfehler im Apparat erhärten diesen Eindruck noch. Die genauere Betrachtung zweier diplomatischer Umschriften (also die Übersetzungen der Autographen in Typographen) liefern den Beweis für eine nicht ganz saubere Textkritik: Sonett 7 ist als Scan wiedergegeben, um die Eingriffe fremder Hand in den „Haupt-Text“ beispielhaft vorzustellen. Die diplomatische Umschrift zeigt, wie der Editor zum ‚fertigen’ Text gekommen ist, soll also die textkritische Arbeit beispielhaft nachvollziehbar machen. Gerade aber hier finden sich einige Ungenauigkeiten.
Dass der Editor in Vers 11 das Verb „kröne“ mit großem Anfangsbuchstaben wiedergibt, ist eine reine Vermutung (und auch eher unwahrscheinlich), da Gundolfs großes und kleines K sich grundsätzlich kaum oder gar nicht voneinander unterscheiden; die Umschrift des eindeutigen „Schöne“ zu „Schoene“ in Vers 7 ist schlichtweg falsch. Der Versuch einer diplomatischen Umschrift scheitert also. Ähnlich fällt auch der zweite Versuch zum Sonett 27 aus, wo z. B. im Autographen der Hand Gundolfs nur „Lieder“ steht, der Editor aber in der Umschrift über die Zeile in fremder Hand ein „Lider“ einfügt, das tatsächlich gar nicht vorhanden ist. In beiden Umschriften wären noch weitere kleinere Ungenauigkeiten zu nennen. Es soll hier dabei belassen werden, um dem Zweifel an der Verlässlichkeit Nachdruck zu verleihen.
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Nichtsdestotrotz bietet die Textdarbietung eine überaus gelungene Basis für komparative Studien, sowohl zwischen gundolf’schem und george’schem Text als auch zur jeweiligen Übersetzungsarbeit am Original.
Gundolf ist dabei auf allen Ebenen deutlich freier in der Übersetzung. Formal höchst auffällig ist das regelmäßige ,Fehlen‘ der couplets. Dass nun gerade diese nicht übersetzt wurden, sind sie doch für die Sonettdramaturgie von eminenter Wichtigkeit, ist ein zu interpretierendes Faktum, das nicht einfach, wie Gutsch es tut, als Zeichen der Öffnung und Unfertigkeit der Übersetzungen gewertet werden kann. Vielmehr handelt es sich um einen künstlerischen Willen zum Bruch mit den Formvorgaben der Gattung. Insofern haben wir es zwar nicht mehr mit ‚ordentlichen’ Sonetten zu tun, aber eben auch nicht mit Nicht-Sonetten. Weiterhin formal betrachtet reimt Gundolf einige Male umarmend, das prototypische Shakespeare’sche Sonett damit ebenfalls stark umformend. Freier geht Gundolf außerdem mit dem im Original allermeist männlich endenden Blankvers um und endet mit meist alternierenden Versschlüssen, wo George meist nur dann weiblich endet, wenn es auch das Original ausnahmsweise einmal tut. Aber gerade das zeichnet Gundolfs Übersetzungen aus: Ihre doppelte ‚Unfertigkeit’ – zum einen wegen ihrer jeweiligen Fragmentarizität und zum anderen als abgebrochenes Gesamtprojekt ad usum georgi.
Inhaltlich nimmt Gundolf sich deutlich größere Freiheiten als George, ist noch mehr ,Nachdichter‘ als der ‚Umdichter’ George. Auch geht Gundolf noch freier mit der Zielsprache um: Sein Deutsch ist geradezu hyper-georgesch zu nennen, noch radikaler in seiner sperrigen, preziösen Manieriertheit – und betont damit noch stärker als Georges Umdichtung die eigene Ästhetizität und Texthaftigkeit. Aus „Sometimes too hot the eye of heaven shines,“ in Sonett 18, Vers 5 wird bei George: „Des himmels aug scheint manchmal bis zum brennen,“, wo Gundolf „Zu glüh ist oft des Himmels Blick erhellt“ nachdichtet. Hanspeter Schelps Einschätzung im Shakespeare-Jahrbuch von 1971 kann durchaus gefolgt werden, in Gundolfs Übersetzungen der Dramen Shakespeares äußere sich der dichterische Geist des George-Kreises „mit dem Streben nach esoterischer Erlesenheit, weihevollem Ernst und Distanzierung vom Alltäglichen in einem höchst bewußten Einsatz sprachlich-poetischer Mittel, der der Gefahr der Manieriertheit nicht immer entgangen ist.“ (99) Viele Urteile über die Qualität von Gundolfs Übersetzungen sind aus diesen Gründen negativ ausgefallen; dieses Los teilt er sich mit George. Mit vorliegender Edition wird nun endlich auch die genaue Untersuchung und Bewertung von Gundolfs Sonett-Übersetzungen im Abgleich mit George möglich.
In der direkten Gegenüberstellung der beiden Übersetzungen fallen durchaus zentrale Ähnlichkeiten auf, die darauf schließen lassen, dass George tatsächlich einiges an Inspiration von Gundolf erhielten. Dies zeigt sich z. B. ebenfalls im Sonett 18, Vers 2: Das im Englischen ungegenderte Du in „Thou art more lovely and more temperate :“ wird sowohl bei Gundolf, „Der du noch lieblicher und milder bist“ wie bei George, „Dich der du lieblicher und milder bist?“ geschlechtlich vereindeutigt – was der langen Tradition der heteronormativen Lektüre z. B. dieses Sonetts aber auch aller Sonette Shakespeares (korrekterweise) entgegensteht. Gundolfs Übersetzung ist also bereits die George so wichtige „Kraft der übergeschlechtlichen Liebe“ eingeschrieben, die sich, wie George im Vorwort zu den Umdichtungen schreibt, nun mal auch homoerotisch ausdrückt. Insgesamt kann von deutlichen Verbindungen beider gesprochen werden.
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Der Untererfüllung der Sonettform steht dabei eine Übererfüllung der George-Sprache gegenüber: Pseudo-Archaismen, Neologismen (oft in Form von Nominalkomposita) und der von Inversionen, Parenthesen und Hyperbata bestimmte Satzbau – all das trägt Gundolf noch einmal mit größerer Pinselstärke auf als George: „Ich bin dein Sklav, was wäre sonst mein Merk / Als deiner Stunden Wille und Behuf / Nicht bleibt mir irgend kostbar Zeit und Werk / Mich heischt kein Dienst als Dein des Herren Ruf.“ (Sonett 57, 1. Quartett)
Schelp schreibt in seinem Aufsatz über Gundolfs Übersetzungen von Shakespeares Dramen: „Uns heutigen, insbesondere den jungen Lesern bzw. Hörern, die kaum mehr Beziehungen zu dem esoterischen Pathos und der ‚orphischen Besessenheit’ Georges haben, dürfte wohl keine Shakespeare-Übersetzung so wesensfremd sein und fernstehen wie die Friedrich Gundolfs.“ Dieser Befund kann ebenso für die Sonettübersetzungen gelten. Diese deshalb nur als historisches Zeugnis zu lesen, wäre jedoch ein ganz falscher Schluss. Eines von vielen Beispielen für die durchaus hohe Qualität von Gundolfs Übersetzungen, die an manchen Stellen denen Georges mehr als gewachsen sind, ist bereits schon das 1. Sonett. Zwar rückt Gundolf von Shakespeares Bildlichkeit deutlich ab, dies aber, um wirklich überzeugende Verse zu produzieren, so die Verse 9 und 11: „Within thine own bud buriest thy content“ wird zu „Begräbst dein Sein im eignen Keim mit Dir“ und „Thyself thy foe, to thy sweet self too cruel“ zu „Dir selbst ein Feind in Selbstvertilgungswut“ – im Hinblick auf die Prägnanz der Aussagen und die extrem hohen Anforderungen an formale wie lautliche Qualitäten leistet Gundolf Besonderes – auch im Vergleich zu George.
Der hohe Wert dieser Edition liegt nicht nur darin, für die Literaturgeschichtsschreibung den bereits bekannten ca. 150 Übersetzern der Sonette ins Deutsche einen weiteren hinzuzufügen. Ebenfalls nicht nur darin, Gundolf als einen nun nicht mehr wegzudenkenden Teil des George’schen Oeuvres zu präsentieren – was alleine schon die Edition gerechtfertigt hätte. Ihr größtes Verdienst ist es vielmehr, ein herausragendes und wirkmächtiges Werk von durchaus hoher Qualität Lesern und Wissenschaft endlich zugänglich zu machen und dem bereits leicht verblassten Übersetzer Gundolf die ihm gebührende Anerkennung entgegenzubringen.