Von Roland H. Wiegenstein
Der an der Havard University lehrende Historiker Stephen Greenblatt hat mit seinem 2004 erschienenen großen Buch „Will in der Welt“ heftige Diskussionen ausgelöst – viele sehen darin einen neuen Zugang zu Shakespeare und der elisabethanischen Welt. 2006 benutzte er die jährlich stattfindenden „Adorno-Vorlesungen“ in Frankfurt, um drei ihm besonders wichtige Aspekte seiner Forschung auszubreiten: des Dichters Vorstellungen von Freiheit, Schönheit und den Grenzen des Hasses.
Wie alle diese Vorstellungen aus einer einzigen Szene eruiert werden können, zeigt der Shakespeare-Experte an einer eher nebensächlichen aus „Maß für Maß“, als es nämlich um den Briganten Bernadino und dessen angeordnete Hinrichtung geht. Es sind nur wenige Verse, in denen der schlaue Übeltäter sich gegen das Geköpftwerden wehrt und am Ende begnadigt wird: Sowohl der Protest als auch der Akt der Gnade haben etwas von Willkür, und genau das interessiert Greenblatt.
Im Kapitel über die Freiheit geht es um die künstlerische Autonomie und das, was Shakespeare davon wahrnahm, er, der Schauspieler, Theaterdirektor in einem Umfeld, das weithin von traditionellen Begriffen geprägt war. „Shakespeare glaubte nicht daran, dass ein Künstler vollkommen frei sei. Er sah, dass die Kunst abhängig war von gesellschaftlicher Übereinkunft, gleichwohl hat er sich den Normen seiner Zeit nicht ohne weiteres unterworfen.“ Das wird vor allem am Beispiel des „Sommernachtstraum“ exemplifiziert, wo der freie Wille des Herrschers „Gesetz und Sitte“ einfach beiseitelässt, an die er doch nach der Staatslehre der Zeit hätte gebunden sein müssen.
Auch im „Coriolan“ sagt der Held: Ich steh’, als wär’ der Mensch sein eigner Schöpfer / Und kennte meinen Ursprung. „Anders“, so Greenblatt, „kann sich Coriolanus seine eigene Identität nicht vorstellen. Was sie ausmacht, ist, dass sie aus sich selbst geschaffen ist, das ist der Kern seiner Unverwechselbarkeit und seines Selbstwertgefühls.“ Aber der Einspruch seiner Mutter Volumnia vernichtet dieses Selbstbewusstsein – Coriolan folgt ihr und stirbt. Genau aus dieser Szene rekonstruiert der Autor Shakespeares Autonomie-Vorstellung, sie kann allenfalls eine ästhetische sein. Auf die Spuren solcher Autonomie durchforscht er Dramen und Sonette des Dichters und zeigt, wie dieser sich – indem er herrschende Konventionen poetisch unterläuft – eine Art von Freiraum schafft.
Im zweiten Kapitel wird genau dieser Gedankenstrang weitergeführt: Was ist Schönheit? In den Augen der Zeit: Makellosigkeit, eine Schönheit gleichsam ohne Eigenschaften, so wie sie in den Definitionen des großen Renaissance-Theoretikers Leon Battista Alberti unübertrefflich beschrieben wird. Harmonie, Kohärenz, Ökonomie und Vollständigkeit. Eben nichts Individuelles. Genau dort setzt Greenblatts Untersuchung ein: Er zeigt, wie Shakespeare diesem Schönheitskanon normalerweise folgt: „Häufig bringt Shakespeare das Strahlen der Schönheit und dessen Empfindung mit dem Wort fair zum Ausdruck; über siebenhundert Mal verwendet er es in seinem Werk. Es kann lieblich bedeuten, klar, zart und rein, hat aber auch die ausdrückliche Bedeutung von strahlend hell.“
So zollt er dem Tribut, was seine Zeit unter Schönheit verstand. Aber es geht auch anders: Greenblatt spricht von „Ästhetisierung der Wunden“ (Coriolan), er zeigt, wie schwankend der Schönheitsbegriff wird, je genauer man die Werke untersucht, wie viele Stellen (und Szenen) es gibt, wo der traditionelle Kanon verlassen wird. „Shakespeares leidenschaftlichste Lobpreisungen der Schönheit brechen wiederholt mit der Eigenschaftslosigkeit, die seinem kulturellen Ideal entspricht. Und diesem Bruch entspringt Identität … die Verabschiedung der Norm vollzieht die Individuation.“
Die Genauigkeit, mit der Greenblatt vorgeht, wie er noch aus halben Verszeilen Widersprüche filtert und uns zum genaueren Lesen anhält, ist stupend. Das wird besonders deutlich beim dritten Kapitel, dem über den Hass. Es beginnt mit einer furiosen Beschreibung jener „Andersartigkeit“, die Hass auslöst. Eine genauere phänomenologische Beschreibung des Fremdenhasses habe ich bislang nicht gelesen. Aber was man (so wie es dasteht) ohne Umstände auf einen Islam anwenden könnte, der uns Angst macht, das ist für Greenblatt nur die Folie, auf der er die Dichotomien der monotheistischen Religionen mit ihrem absoluten Wahrheitsanspruch abhandelt, und das heißt im Fall Shakespeares vor allem die zwischen Christen und Juden, die es übrigens zu des Dichters Zeiten in England gar nicht mehr gab. Man hatte sie alle von der Insel vertrieben.
Aber das Gerücht über sie existierte weiter. Es bestimmt den Konflikt im „Kaufmann in Venedig“, jenem Stück, in welchem der Antisemitismus in einer fürchterlichen Projektionsfigur erscheint, dem Juden Shylock. Sein Hass auf die Christen, die ihn nie als eine Person ihresgleichen annahmen, die zwar mit ihm Handel trieben, ihn aber dafür verachteten und bespuckten, ist grenzenlos. Er selbst führt dafür die Gründe an – auch materielle: Was wäre, wenn der Jude auf seine Schuld verzichtete, bräche dann nicht das ganze ökonomische System der venezianischen Händlerrepublik zusammen?
Shylocks große Anklagerede fragt seine Beleidiger: „Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Größe, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Sommer und Winter als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht? Wenn ihr uns kitzelt, lachen wir nicht? Wenn ihr uns vergiftet, sterben wir nicht? Und wenn ihr uns beleidigt, sollen wir uns nicht rächen?“
Es waren solche Sätze, die große jüdische Schauspieler wie Ernst Deutsch und Fritz Kortner veranlassten, sich gerade auf diese Rolle einzulassen. Aber, so sagt Greenblatt, wenn Shylock darauf besteht, ein Mensch zu sein, dann in der Befürchtung, etwas ganz anderes zu sein, wie es einer aus der christlichen Kaufmannsschar ausdrückt, nämlich: ein Teufel. „Der Teufel ist der Erzfeind, den die Juden verkörpern und den der gute Antonio als guter Christ von ganzem Herzen, mit seiner ganzen Seele hassen muss“, sagt Greenblatt. „Shylocks Worte sind die Erklärung seiner Identität – ‚Ich bin ein Jude’ – und gleichzeitig der Versuch, die phantasmagorische Gleichsetzung seiner Identität mit dem metaphysisch Bösen zurückzuweisen, das die spätmittelalterliche Christenheit in den Juden und im Jüdischsein zu erkennen glaubte.“
Aber – und hier wird die Analyse unmittelbar auf unsere Gegenwart bezogen - er weist an einem einzigen Satz nach, nämlich: mit der gleichen Speise genährt, dass es hier um Feindschaft geht, „doch ist dies politische Feindschaft und nicht der Traum, von einer absoluten, unauflöslichen und unauslöschlichen Andersheit“. Vorher waren nämlich die Speisevorschriften der Juden Anlass für Spott gewesen, standen für eben das Andersartige. Noch vor Gericht (in der von Porzia aufgeführten Farce!) besteht er auf dieser grundsätzlichen Andersartigkeit, auf dem unversöhnlichen Jüdischsein, dem also, was bei Greenblatt als „Traum“ figuriert. (Den die Juden nur in den Augen der Christen träumen.)
Doch – und hier macht Greenblatt auf etwas sonst meist Übersehenes aufmerksam – es gibt bei Shakespeare noch eine überraschende Wendung (und dies nicht nur, weil es sich ja um eine „Komödie“ handelt). Shylock gibt nach, weil er selbst nicht sterben will: „Tatsächlich endet die lange Gerichtsszene in Der Kaufmann von Venedig nicht mit der Entdeckung, dass Shylock ein Abkömmling Satans ist. Vielmehr kommt es zu einer verblüffenden Enthüllung: Shylocks Hass hat Grenzen.“ Er, der Unversöhnliche, weigert sich, für die Erfüllung seiner Forderung nach dem Pfund Fleisch selbst zu sterben – kein Teufel, sondern ein Mensch. Um einen hohen Preis: Er muss die Hälfte seines Vermögens hergeben – und sich taufen lassen. „Shakespeares ästhetische Lösung liegt in einer Assimilation, der der Feind schließlich zustimmt, weil er anderenfalls Leben und Lebensunterhalt verliert.“
Diese Lösung verweigert ein anderer von Shakespeares negativen Gestalten: Jago im „Othello“. Er erscheint als das Böse schlechthin, aber es ist ein individuelles Böses, das durch keine „Umstände“ (Beförderungsverweigerung, Neid usw.) mehr zureichend zu erklären ist. Mit einem einzigen Wort am Ende, das ein Venezianer sagt, weist der Dichter auf eine Dimension hin, die das Unverständliche bezeichnet, es ist das Wort „tragisch.“ Danach ist der Rest wirklich Schweigen.
Es gibt immer wieder, wenn schon am Rande, auch Hinweise in des Dichters Werk, dass der Islam, ein arglistiger Türk’ in hohem Turban, als äußerer Feind, als Projektionsfläche für Hass dienen konnte. Die Brisanz solcher Hinweise deutet Greenblatt nur an: Angesichts der Bereitschaft zum Selbstmord (die Shylock fehlt), also dem „grenzenlosen Hass“, zeigt er, wo eben diese Grenzen des Hasses liegen, in der „Assimilation“, wozu freilich in einer säkularen Welt auch der Verzicht auf eine mit Gewalt durchgesetzte Respektierung der alleinigen, einzigen Wahrheit liegt, die jede monotheistische Religion für sich beansprucht.
Das mag in der gegenwärtigen Situation als schwacher Ausweg erscheinen – und ist doch der einzige, der bleibt. Der Hass muss Grenzen haben, als totale Negation ist er tödlich für alle. Hier liegt denn auch der Zusammenhang mit Adornos Gedanken von der Negativität: Er ist keiner, der Gewalt fordert – vielmehr ihr Ende.
Literaturangaben:
GREENBLATT, STEPHEN: Shakespeare, Freiheit, Schönheit und die Grenzen des Hasses. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2006. Aus dem Amerikanischen von Klaus Binder. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2007. 122 S., 16,80 €.
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