Wahrscheinlich hat jeder als Jugendlicher seinen Teil an Sherlock-Holmes-Geschichten gelesen und Sherlock-Holmes-Filme gesehen. Schon zu Lebzeiten seines Erfinders Arthur Conan Doyle überfluteten Holmes-Epigonen den Markt. Neue, nicht von Doyle geschriebene Holmes-Geschichten wurden veröffentlicht und die Leser verlangten nach weiteren Abenteuern ihres Helden aus der Baker Street 221 B.
Natürlich wurden Holmes-Geschichten auch mehr oder weniger werkfern verfilmt. Am bekanntesten dürfte, auch dank zahlreicher Wiederholungen, die von 1939 bis 1946 von der 20th Century Fox produzierte Serie mit Basil Rathbone als Sherlock Holmes und Nigel Bruce als Dr. Watson sein. 1937 inszenierte Karl Hartl als Spiel mit Schein und Sein mit Hans Albers und Heinz Rühmann die gelungene Komödie „Der Mann, der Sherlock Holmes war“ und der bereits am 7. Juli 1930 verstorbene Holmes-Erfinder Doyle hatte am Ende einen „Auftritt“. In den vergangenen Jahrzehnten gab es unzählige erfolgreiche TV-Serien, Parodien und Fortschreibungen, wie „Das Privatleben des Sherlock Holmes“, „Kein Koks für Sherlock Holmes“ und „Genie und Schnauze“.
Auch in Kurzgeschichten und Romanen erzählten in den vergangenen Jahrzehnten viele, oft renommierte Autoren, wie Michael Dibdin, Nicholas Meyer, Loren D. Estleman, Neil Gaiman und Michael Chabon, neue Sherlock-Holmes-Geschichten und fürs Kino dreht Guy Ritchie derzeit seine Version von Sherlock Holmes. Außerdem beuten neue und beim Publikum beliebte TV-Serien, wie „Monk“, „Psych“ und „The Mentalist“, teils auch in Buchform, hemmungslos die Idee des genialen Ermittlers und seines trotteligen Sidekick aus.
Bei diesen vielen Nachfolgern ist der 150. Geburtstag von Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle eine gute Gelegenheit, wieder einmal die Originalgeschichten zu lesen. Denn hinter den unzähligen Variationen, Fortentwicklungen und Interpretationen verschwindet das Original. In den vergangenen Wochen erschienen, schließlich ist für die Verlage so ein Geburtstag auch eine Gelegenheit, alte Bücher und neue Zusammenstellungen der 56 von Doyle geschriebenen Kurzgeschichten wieder zu veröffentlichen, mehrere Sherlock-Holmes-Bücher und ein Hörbuch.
Der Deutsche Taschenbuch Verlag brachte als „Sherlock Holmes Kriminalgeschichten“ sieben anscheinend neu übersetzte Holmes-Geschichten heraus. Jedenfalls findet sich im Impressum kein Hinweis auf eine ältere Auflage. Diogenes veröffentlichte als „Sherlock Holmes Geschichten“ acht Geschichten. Sie überschneiden sich teilweise mit denen des dtv-Bandes, sind aber abweichend übersetzt. Der Diogenes-Band erschien bereits 1984. Bei Bertz + Fischer erschien das Hörbuch „The Adventures of Sherlock Holmes“. In ihm liest David Ian Davies die zwölf Geschichten des gleichnamigen Buches, wozu „A Scandal in Bohemia“, „The Red-headed League“ und „The Adventure with the Speckled Band“ gehören. Zusätzlich können die Geschichten, was sehr lobenswert ist, als PDF-Dokument gelesen werden.
Beim Lesen der Holmes-Geschichten fällt auf, dass die über hundert Jahre alten Geschichten immer noch Spaß machen. Daran ändert auch die teilweise altertümliche Sprache nichts. Gerade die Dialoge dienen Arthur Conan Doyle und seinem Erzähler Dr. John Watson nur dem Vermitteln von Informationen. Denn so würde heute niemand reden und vor über hundert Jahren auch nicht.
Die Schlussfolgerungen von Sherlock Holmes sind teilweise abenteuerlich. Manchmal auch, aus heutiger Sicht, reiner Unfug. So sieht er sich in „Der blaue Karfunkel“ einen Hut an und schlussfolgert sofort, dass es sich um einen intelligenten Mann handeln muss, weil er einen großen Kopf habe. Meist folgert Holmes aus sehr wenigen Fakten sofort das Richtige. Das kann mit der normalen Länge einer Holmes-Geschichte erklärt werden. Schließlich sind ungefähr dreißig Seiten schnell gefüllt. Daher ist das Rätselelement in den Geschichten auch gar nicht so bedeutend wie in den Holmes-Spielfilmen. Auch die Pointe ist öfters ziemlich offensichtlich. So dürften die meisten Leser in „Der Bund der Rothaarigen“ schnell erahnen, dass dieser Verein der Rothaarigen nur als Tarnung für ein Verbrechen gegründet wurde.
Die Geschichten von Doyle sind öfters eher Thriller, in denen der Held und sein patenter Gefährte sich immer wieder ins Geschehen werfen. In „Ein Skandal in Böhmen“ organisiert Sherlock Holmes ein Ablenkungsmanöver, das ihm Einlass in das Haus von Irene Adler (für Holmes „die Frau“) verschafft, wobei sie ihm, dank seiner gewieften Taktik, das Versteck des gesuchten Bildes verrät. Auch in „Die Geschichte mit dem gesprengelten Bande“ und in „Der Teufelsfuß“ begeben Holmes und Watson sich, ohne zu zögern, in Lebensgefahr.
Zwar löst Sherlock Holmes immer den Fall, aber nicht immer wird der Bösewicht verhaftet. In „Ein Skandal in Böhmen“ kann Irene Adler entkommen. Aber ziemlich oft lässt Holmes in den hier versammelten Geschichten den Bösewicht einfach laufen. Ihm genügt die intellektuelle Befriedigung, den Fall gelöst zu haben. Denn wenn die Polizei, die, wie er, alle Fakten kennt, den Fall nicht lösen kann, dann ist das ihr Pech. Manchmal hat Holmes ganz simpel Mitleid mit dem Täter. In dieser Hinsicht ist Holmes sehr zeitgemäß. Denn im Gegensatz zu einem Polizisten, der als Staatsbeamter nur Gesetze vollstrecken soll, folgen Privatdetektive immer ihrem eigenen Moralkodex. Für sie geht es an erster Stelle um Gerechtigkeit und bei Holmes um die intellektuelle Befriedigung, ein Rätsel (nicht unbedingt einen Mord) in irgendeiner gesellschaftlichen Schicht gelöst zu haben.
Als Einstieg in den Holmes-Kosmos kann sowohl der dtv- als auch der Diogenes-Band empfohlen werden. In beiden sind eher willkürlich Holmes-Geschichten aus verschiedenen Holmes-Sammelbänden abgedruckt. Wer danach Lust auf mehr bekommen hat, sollte zur im Insel Verlag erschienenen Werkausgabe greifen. Wer Englisch kann, sollte sich allerdings eine der zahlreichen, günstigen Originalausgaben oder das Hörbuch mit den Geschichten des ersten Holmes-Sammelbandes zulegen.
Literaturangaben:
DOYLE, ARTHUR CONAN: Sherlock Holmes Geschichten. Aus dem Englischen übersetzt von Margarethe Nedem. Diogenes Verlag, Zürich 1984/2009. 256 S., 8,90 €..
DOYLE, ARTHUR CONAN: Sherlock Holmes Kriminalgeschichten. Aus dem Englischen übersetzt von Angela Uthe-Spencker und Richard Fenzl. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2009. 240 S., 8,90 €.
DOYLE, ARTHUR CONAN: The Adventures of Sherlock Holmes. Hörbuch, original und ungekürzt. Bertz + Fischer Audiobooks, Berlin 2009. 8:58 h, 14,90 €.
Weblinks:
Diogenes Verlag / Deutscher Taschenbuch Verlag / Bertz + Fischer Audiobooks