BERLIN (BLK) – Im März 2008 erschien der Band V der Werkausgabe Anna Seghers’: „‚Ich erwarte Eure Briefe wie den Besuch der besten Freunde.’ Briefe 1924-1952“ beim Aufbau Verlag.
Klappentext: Ein editorisches Ereignis: Die Briefe der Anna Seghers
Briefe an Hermann Hesse, Lion Feuchtwanger, Peter Suhrkamp, Brigitte Reimann, Marcel Reich-Ranicki u.v.a.
Die erste umfassende Edition: Briefe an Brecht, Amado, Kisch, Huchel, Ehrenburg, Landshoff, Janka, H. H. Jahnn u. v. a . geben unerwartete Einblicke in Seghers' Leben. Sie sind berührende Zeugnisse und Dokumente der Zeitgeschichte. Für Sammler der Werkausgabe: Sonderausstattung mit zwei übereinanderliegenden Schutzumschlägen In der Werkausgabe erschienen: „Aufstand der Fischer von St. Barbara“, „Transit“, „Das siebte Kreuz“, Erzählungen 1958-1966, Erzählungen 1967-1980, „Die Entscheidung“.
Anna Seghers schrieb ihre Briefe spontan, ganz auf den Moment und den Empfänger eingestellt. So unterschiedlich die Adressaten und Anliegen auch sind, so unverkennbar und eigentümlich ist die Stimme der Schreiberin. Nur durch diese Briefe aus Paris, Pamiers, Mexiko-Stadt und dem Nachkriegsberlin wissen wir heute von ihrem persönlichen Befinden, ihren Existenzsorgen im Exil, den Differenzen unter den Emigranten, der Sorge um die Familie und das Werk. Die erschütternden Briefe aus Südfrankreich, wo Anna Seghers um Visa und Geld zur Flucht aus Europa kämpfte, sind das authentische Gegenstück zu dem berühmten Roman „Transit“. Nach ihrer Rückkehr ins zerstörte Deutschland zeigen die Briefe, wie wurzellos sie sich fühlte, aber auch, wie energisch sie begann, sich als Autorin zu etablieren.
Anna Seghers:
Netty Reiling wurde 1900 in Mainz geboren. (Den Namen Anna Seghers führte sie als Schriftstellerin ab 1928.) 1920-1924 Studium in Heidelberg und Köln: Kunst- und Kulturgeschichte, Geschichte und Sinologie. Erste Veröffentlichung 1924: „Die Toten auf der Insel Djal“. 1925 Heirat mit dem Ungarn Laszlo Radvanyi. Umzug nach Berlin. Kleist-Preis. Eintritt in die KPD. 1929 Beitritt zum Bund proletarisch- revolutionärer Schriftsteller. 1933 Flucht über die Schweiz nach Paris, 1940 in den unbesetzten Teil Frankreichs. 1941 Flucht der Familie auf einem Dampfer von Marseille nach Mexiko. Dort Präsidentin des Heinrich-Heine-Klubs. Mitarbeit an der Zeitschrift „Freies Deutschland“. 1943 schwerer Verkehrsunfall. 1947 Rückkehr nach Berlin. Georg-Büchner-Preis. 1950 Mitglied des Weltfriedensrates. Von 1952 bis 1978 Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR. Ehrenbürgerin von Berlin und Mainz. 1978 Ehrenpräsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. 1983 in Berlin gestorben. Romane: Die Gefährten (1932); Der Kopflohn (1933); Der Weg durch den Februar (1935); Die Rettung (1937); Das siebte Kreuz (1942); Transit (1944); Die Toten bleiben jung (1949); Die Entscheidung (1959); Das Vertrauen (1968). Zahlreiche Erzählungen und Essayistik. (vol/wip)
Leseprobe:
© Aufbau ©
An Nico Rost, Berlin, 1. Juni 1948
Anna Seghers
Berlin-Zehlendorf West
Argentinische Allee 3
Pension Obigt
Berlin, den 1. Juni 1948
Lieber Niko,
ich danke Dir sehr fuer Deinen Brief. Ich haette Dir laengst geschrieben wenn ich nicht die ganze Zeit verreist gewesen waere, fast drei Monate war ich nicht hier. Zuerst ein paar Wochen bei den Kindern, dann sozusagen durch Europa durch. Beides war in anderer Art sehr wunderbar. Ich bin nicht besonders gerne hier, das kann ich nicht behaupten, ich bin tief verbunden durch meine Arbeit, durch meine Sprache und was dazu gehoert, oft ueberwiegt das so stark, dass ich einen grossen Elan hab und sicher einen ungeheuer lustigen Eindruck mache. Ich bin auch abends immer todmuede und tagsueber habe ich keine fuenf Minuten Zeit, ueber mich selbst zu denken. Ich moechte aber nicht hier sterben, da denke ich oft an den Satz von Tertulian; wenn Du den alten Kirchenvater kennst: Im Leben Gemeinsamkeit haben mit den Heiden ist erlaubt, im Tode nicht. – Sowas von Heiden haben sich weder Moses noch Paulus vorgestellt. Ich habe manchmals das Gefuehl, kein Mensch erinnert sich richtig mehr, was das ueberhaupt ist, eine menschliche Beziehung. Ich brauche Dir nicht zu sagen, dass das weder auf die engeren Freunde geht noch auf die ferneren. Es ist durch sie, dass meine Arbeit den grossen Schwung hat und dass man manchmal die Veraenderung vorausfuehlt. Um sie immer zu fuehlen dazu muss man die Kraft und Geduld dieser Menschen haben, vielleicht auch das enorme Land im Ruecken fuehlen. Ich habe Dir jetzt zu ernst, vielleicht aus einer zu traurigen Situation heraus, ich geniere mich ja nicht bei Dir, das Schwierige zu stark betont. Es gibt natuerlich jede Woche, wenn ich schreibe, wenn ich Briefe lese, wenn ich Vortraege halte in Schulen in Fabriken usw. viele Augenblicke in denen ich mich fuer diese Stimmung beschimpfe, aber sicher sind dem lieben Gott verschiedene andere Voelker besser geglueckt. Nun das ist sein job. Das merkwuerdige ist, dass ich auch jetzt, wenn man mich fragen wuerde, sofort wieder hierher kaeme, weil nirgends das Leben so intensiv gelebt ist, weil ich das Wichtigste auf der Welt nicht gekannt haette, wenn ich das hier nicht kennen wuerde.
Nun, der Brief ist keine richtige Antwort auf Deinen, haengt aber doch damit zusammen, dass wenn Du schreibst, dass Du Dich nach Egons Tod noch mehr allein fuehlst. Dass man sich unbedingt sehen muss, ja um Gotteswillen, so komm doch. Anfangs war es so, dass der Rodi bald kommen sollte, das hat bis jetzt noch nicht geklappt. Ich glaube auch, er konnte und sollte nicht in einer Weise fort, dass er nicht wann er will, zurueckfahren kann. Dafuer ist er viel zu sehr in die Menschen und in die Arbeit und sogar jetzt in die Sprache dort verwurzelt.
„Die Hochzeit von Haiti“ ist kein Buch nur eine Novelle. Sie spielt auf den Antillen seit der fr. Revolution, Negeraufstand, Volkskommissar und solche Sachen. Da die Antillen meine Lieblingsgegend sind (dort moechte ich z.B. sterben) werde ich vielleicht aus demselben Milieu noch zwei kuerzere Geschichten schreiben. Ich werde sie wahrscheinlich in einen dicken Novellenband hineinnehmen, den ich dieses Jahr fertig machen will. Ich glaube, es wird eine interessante Arbeit werden, Geschichten aller Zeiten und Voelker, Liebesgeschichten, Kriminalgeschichten usw. mit einer lustigen, aber ernsten Dramenhandlung und einigen Saetzen, Diskussion, Widerspruch und Zustimmung, zwischen den Geschichten, eine Art modernes Dekamerone.
Zu „Haiti“ nur Landshoff, Querido hat von mir letzte Woche das endgueltige Exemplar bekommen. „Der Aufbau“ hat es zwar schon angezeigt, aber nur weil er gierig ist, er hat es noch garnicht. Ich moechte auch aus verschiedenen Gruenden viel lieber, es kommt bei Querido heraus, evt. gleichzeitig hier. Es waere sogar fuer mich ganz gut, Du wuerdest bei Landshoff jetzt anfragen, ob er Dir nicht eine Kopie zum Uebersetzen schickt, ich haette Dich dazu bevollmaechtigt. Ich glaube sogar, Du koenntest an dieser Arbeit Deinen Spass haben; dann weiss man auch gleich, ob das Manuskript auch wirklich bei ihm angekommen ist.
Mischa sagte mir letzte Woche, ich soll ein Vorwort fuer Dein Buch schreiben. Ich kenne das Buch noch nicht, ich werde es aber gern tun.
Am besten ist, Du kommst her und ich mache es sofort unter Deinen Augen. Es gruesst Dich
Deine
Anna
Nico, Deine Schrift ist fuerchterlich, Du musst die Adressen deutlicher schreiben, Deine Schrift ist sogar tueckisch, denn sie wirkt auf den ersten Blick, wie eine saubere Schrift.
Dem Landshoff brauchst Du nicht zu sagen, dass ich die Absicht habe, noch mehr solche Geschichten zu schreiben. Mir ist ganz lieb er gibt mal diese gesondert heraus.
© Aufbau ©
Literaturangaben:
SEGHERS, ANNA: „Ich erwarte Eure Briefe wie den Besuch der besten Freunde.“ Briefe 1924-1952. Werkausgabe, Band V/1. Herausgegeben von Christine Zehl Romero und Almut Giesecke. Aufbau Verlag, Berlin 2008. 747 S., 36 €.
Mehr zum Buch:
Verlag