Von Jürgen Hein
Würde man sagen, die Charaktere in Siri Hustvedts neuem Roman stehen am Abgrund – es klänge zu dramatisch. Sie stehen allenfalls an steilen Böschungen. Aber auch da kann man abrutschen und in bedrohliche Situationen geraten, die von oben gar nicht so genau zu erkennen sind. Und darum geht es im Buch „Die Leiden eines Amerikaners“: Die Angst vor dem, was da unten lauern könnte, prägt unser Lebensgefühl, unabhängig davon, ob diese Befürchtungen überhaupt einen wahren Grund haben. Diese Angst ist wie ein Schwindelgefühl: Der Boden schwankt gar nicht wirklich, und dennoch wanken wir und fallen vielleicht sogar.
Wie schon im Roman „Was ich liebte“ erzählt Hustvedt (53), die Frau des New Yorker Erfolgsschriftstellers Paul Auster, in der Ich-Form aus der Perspektive eines Mannes. Wieder ist dieser Mann zwar der Mittelpunkt der Geschichte, steht aber nicht im Zentrum des Interesses. Und wieder schaut Hustvedt nach innen, in die wunden Seelen. Die wahre Welt, das Außen, ist Anlass für alles, was innen passiert, sie gibt Anstöße, löst etwas aus. Aber die Dynamik, für die Hustvedt sich interessiert, spielt sich innen ab, und die schildert sie wieder meisterhaft.
„Auf die eine oder andere Art versuchen alle Charaktere, den Sinn von bruchstückhaften Gefühlen und Erinnerungen zu verstehen, die sich einer Erklärung oft widersetzen“, sagt Hustvedt selbst über ihren Roman. Da ist Lars Davidsen, der Vater des Ich-Erzählers, in dessen Leben es ein Geheimnis gab. Da ist sein Sohn Erik Davidsen, der in einem Brief auf die Andeutung dieses Geheimnisses stößt und sich mit seiner Schwester Inga auf die Suche begibt. Da gibt es eine Affäre, die Ingas Mann ihr verheimlicht hat. Da ist Ingas Tochter Sonia, die von Bildern des 11. Septembers verfolgt wird. Und da ist Miranda, in die sich Erik verliebt – sie wird von ihrem Ex-Mann verfolgt.
Die Spannung ergibt sich weniger aus dem, was diesen Leuten passiert, als vielmehr aus den Gefühlen, die das alles bei ihnen auslöst. Emotion statt Action. Und Siri Hustvedt erweist sich wieder als genaue Beobachterin der Innerlichkeit. Wer das Buch liest, bangt mit Lars und Erik, Inga und Miranda. Er lernt, ihre Gefühle zu respektieren, sie ernst zu nehmen, so wie Hustvedt selbst das tut. Die Leser teilen die Erleichterung, wenn sich irgendetwas als nicht so schlimm erweist wie befürchtet – und ahnen zugleich, dass bald eine neue Angst auftauchen wird. Weil die Angst in uns selbst sitzt wie ein Radar, immer auf der Suche nach einem Objekt da draußen, das die Signale zurückwirft.
In ihrem Roman zitiert Hustvedt aus den Tagebüchern ihres Vaters. Als er im Sterben lag, bat sie ihn um Erlaubnis, und er stimmte zu. „Die Figur des Lars Davidsen gründet sich auf meinen Vater, und so hat es sich ergeben, dass ich Erik Davidsen, den Erzähler des Buchs, als meinen imaginären Bruder sah“, sagt Hustvedt in einem Begleittext, den ihr Verlag zur Verfügung gestellt hat.
Literaturangaben:
HUSTVEDT, SIRI: Die Leiden eines Amerikaners. Roman. Aus dem Englischen von Uli Aumüller und Gertraude Krueger. Rowohlt Verlag, Reinbek 2008. 416 S., 19,90 €.
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