Von Kathrin Streckenbach
Jessica Grants Roman „Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers“ ist kein Buch, das den Leser sofort in den Bann zieht. Im Gegenteil: Die ersten paar Seiten wirken beinahe konfus. Wer spricht da eigentlich, mit wem und worüber? Die Protagonistin Audrey Flowers lebt in ihrer ganz eigenen, wunderlichen Welt.
Doch die Geduld fürs Weiterlesen lohnt sich, denn mit Audrey Flowers ist der kanadischen Autorin eine Romanfigur gelungen, die man mit jeder Seite mehr ins Herz schließt, die einen zum Lachen und mitunter auch zum Weinen bringen kann, und die einen auch nach der Lektüre für eine ganze Weile nicht loslassen will.
Audrey Flowers lebt mit ihrer Schildkröte Winnifred in Amerika, als sie einen Anruf von ihrem Onkel Thoby erhält. „Es ist etwas Schlimmes passiert“, sagt er. „Dein Vater hatte einen Unfall und liegt im Koma.“ Doch als Audrey zu Hause in Kanada ankommt, ist ihr Vater bereits gestorben. Die junge Frau muss nicht nur mit dem Verlust zurechtkommen, sondern auch eine ganze Menge Rätsel lösen, die er ihr hinterlassen hat. Was genau verbindet den seltsamen „Toff“ mit ihrer Familie? Warum lebt Onkel Thoby bei ihnen im Haus? Und welches Geheimnis verbirgt ihre Großmutter vor ihr?
Audrey, die alle nur „Oddly“ nennen, hat ihre ganz eigenen Antworten auf diese Fragen. Ohnehin sieht sie die Welt mit etwas anderen Augen - vielleicht, weil sie am 29. Februar geboren wurde und bisher eigentlich nur sechsmal Geburtstag hatte. Sie zieht sich immer mehr in ihre eigene Welt zurück, in der Schildkröten Shakespeare lesen, Taxifahrer in einem geheimen Trainingslager das Autofahren lernen und ihre „Hausmaus“ Wedge zwanzig Jahre alt wird.
Das Romandebüt der jungen Autorin erinnert an einen beständigen inneren Gedankenfluss, eine Art Wachtraum. Grant wechselt nahezu übergangslos Zeiten und Szenen, Audreys Vergangenheit mischt sich mit der Gegenwart, die Fiktion mit der Realität. Zudem verzichtet die Autorin auf alle Satzzeichen außer Komma und Punkt.
Dabei nähert sich Grant den ganz großen Themen des Lebens: Wie geht man mit dem Verlust eines geliebten Menschen um? Wie viel Wahrheit verkraftet eine Freundschaft? Die Autorin zeichnet ihre Figuren dabei herrlich schrullig und sonderbar. Und nach zwanzig, dreißig Seiten ist man dann mitten drin in der bezaubernden Welt der Audrey Flowers - und möchte eigentlich gar nicht mehr aus ihr heraus.
Literaturangabe:
GRANT, JESSICA: Die erstaunlichen Talente der Audrey Flowers. Manhattan Verlag, München 2010. 496 S., 14,95 €.
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