MÜNCHEN (BLK) – Die Biografie über Sophie Scholl von Barbara Beuys ist im Februar 2010 im Carl Hanser Verlag erschienen.
Klappentext: Sophie Scholl ist eine Ikone der deutschen Geschichte. Mit Flugblättern hatte sie es gewagt, die verbrecherische Politik Adolf Hitlers anzuklagen. Doch ihr Weg von der jugendlichen NS-Führerin zur entschiedenen Gegnerin des Nationalsozialismus war länger, widersprüchlicher und differenzierter als bisher dargestellt. Barbara Beuys hat Hunderte bisher unbekannte Dokumente gesichtet, die das Rückgrat der ersten umfassenden Biografie über Sophie Scholl bilden. Eingebettet in die farbige, historisch präzise Schilderung der Nazi-Herrschaft beschreibt sie meisterhaft die ganze Lebensspanne der Widerstandskämpferin der Weißen Rose.
Barbara Beuys, 1943 in Wernigerode geboren, ist eine deutsche Schriftstellerin, Redakteurin, Historikerin und Journalistin. Sie arbeitete als Redakteurin unter anderem beim Stern, Merian und bei der Zeit. Seit 2001 lebt Barbara Beuys als freie Autorin von Sachbüchern wieder in Köln. (wer/sch)
Leseprobe:
© Carl Hanser Verlag ©
Der bisher unbekannte Brief Sophies an Werner Scholl, der erstmals den 20. Januar als Termin für ein weiteres Ateliergespräch ans Licht bringt, führt deutlich vor Augen, auf wie dünnes Eis sich jeder begibt, der versucht, ein Fakten-Gerüst über die Aktivitäten der vier Menschen zu erstellen, die im Januar und Februar 1943 in der Nachfolge der „Weiße- Rose-Flugblätter“ mit ihren studentischen Mitteln Widerstand leisteten. Abgesehen von Willi Grafs kurzen verschlüsselten Anmerkungen in seinen Tagebüchern – weder Sophie noch Hans Scholl noch Alexander Schmorell haben Aufzeichnungen über die Planung und Herstellung der Flugblätter und den Ablauf der Aktionen hinterlassen. Niemand war anwesend bei ihren Gesprächen oder bei ihrer Arbeit am Vervielfältigungsapparat, beim Falzen der Flugblätter und anderen Aktivitäten, von denen wir noch hören werden. Ungeklärt ist auch die genaue Anzahl der postfertigen Flugblätter geblieben, weil Hans und Sophie Scholl und Alexander Schmorell in den Verhören unterschiedliche Angaben machten – von 9500, 6000 beziehungsweise 3500 bis 4500 ist die Rede.
Die Rekonstruktion dieser Wochen und Tage beruht ausschließlich auf dem, was die Angeklagten in den Vernehmungen nach ihrer Verhaftung erzählt haben. Dabei standen vor allem Sophie und Hans Scholl und Christoph Probst, die als Erste verhaftet wurden, unter dem ungeheuren Druck, möglichst wenig über die direkten „Mittäter“ preiszugeben und in nächster Linie auch alle anderen zu schützen, die als Freunde und Bekannte in den Verdacht der „Mittäterschaft“ geraten könnten. So schrecklich es klingt: Nach der schnellen gemeinsamen Hinrichtung von Sophie und Hans Scholl und Christoph Probst konnten die anschließend im Umkreis der „Weißen Rose“ Verhafteten in den Verhören vieles den Getöteten anlasten, das nicht der Wahrheit entsprach, aber keinen Schaden mehr anrichtete.
Es werden Lücken und Unsicherheiten im Leben von Sophie Scholl in Bezug auf die Taten und ihre Mitwirkung bleiben; Daten, die nicht zusammenpassen, und Fragen, auf die es keine Antworten gibt. Allerdings kann einiges aufgrund der bisher unbekannten Briefe geklärt oder widerlegt werden, manches steht plötzlich in einem anderen Licht. Die Fakten und Informationen der Briefe sind – im Vergleich zu den Gestapo-Vernehmungen – unbeeinflusst und zwanglos niedergeschrieben, ein unschätzbarer Vorteil.
Sophie Scholls Brief vom 19. Januar an Werner Scholl korrigiert zwei bisherige Annahmen: Das Flugblatt kann wegen der Ateliergespräche schwerlich vom 20. auf den 21. Januar auf Matrize geschrieben und mit dem Vervielfältigungsapparat tausendfach abgezogen worden sein. Das muss in den folgenden Nächten passiert sein. Wenn das zutrifft, hat Willi Graf bei dieser Arbeit die meiste Zeit nicht mitgeholfen, denn er trat spät in der Nacht des 20. Januar eine Reise nach Köln, Saarbrücken, Straßburg und Freiburg an, um Gleichgesinnte für gemeinsame Aktionen und eine Verbreitung des Flugblatts zu gewinnen. Verraten hat ihn niemand, aber außer einem alten Freund lehnten alle Angesprochenen eine Mitarbeit ab. Graf war rechtzeitig am 24. zurück, um die letzten Kuverts für die allererste Flugblatt-Aktion zu füllen und Briefmarken aufzukleben.
Am 23. Januar hatte Sophie Scholl verschlüsselt an Hans Hirzel geschrieben, er solle sich am Abend des 25. auf dem Bahnhof in Ulm einfinden. 25. Januar 1943 – Am Nachmittag stieg Sophie Scholl in München in einen Schnellzug nach Augsburg. In ihre Aktentasche und einen Rucksack hatte sie an die 2000 Flugblätter gepackt, etwa 250 davon in Umschlägen und mit Augsburger Adressen versehen. Da ihr für einen Teil der Briefe die Marken fehlten, kaufte sie in Augsburg rund 100 Marken zu 8 Pfennig. Wären die Kuverts in München eingeworfen worden, hätte man 12-Pfennig- Marken benötigt.
Sophie Scholl klebte die fehlenden Marken auf, warf die 250 Sendungen in zwei verschiedene Briefkästen und fuhr gegen Abend weiter nach Ulm. Entgegen der Verabredung war Hans Hirzel nicht am Bahnhof. Da Sophie Scholl sich auskannte, ging sie, immer noch schwer beladen, in die Ulmer Weststadt, zum Pfarrhaus der Martin-Luther-Kirche. War schon die Fahrt im Zug mit den Flugblättern im Gepäck wegen der vielen Kontrollen äußerst riskant, wird Sophie Scholl mit gesenktem Kopf durch Ulms Straßen gelaufen sein, in der Hoffnung, keinem Bekannten zu begegnen. Im Pfarrgarten traf sie Hans Hirzel, übergab ihm die Flugblätter und ging schnellstens zum Bahnhof zurück.
Als Sophie Scholl wieder im Zug Richtung München saß, konnte sie tief durchatmen. Sie hatte nichts mehr im Gepäck, und dass sie – im Fall einer Kontrolle – von den Eltern in Ulm zurück zum Studium nach München fuhr, war absolut unverdächtig. Was festzuhalten bleibt: Es war Sophie Scholl, die innerhalb der riskanten Gesamtaktion den Anfang machte mit einem riskanten Einzel-Unternehmen. Auf der Etappe München–Augsburg– Ulm hätte etliches schief gehen können. Wäre Sophie Scholl verhaftet worden, hätte – abgesehen von ihrem eigenen Überleben – Gedeih und Verderb der Freunde zuerst einmal an ihrem klaren Verstand und ihren guten Nerven bei den Verhören gehangen.
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Literaturverzeichnis:
BEUYS BARBARA: Sophie Scholl. Biographie. Carl Hanser Verlag, München 2010. 496 S., 24.90 €.
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