Von Roland H. Wiegenstein
Am Montag, den 22. Februar 1943 werden der fünfundzwanzigjährige Soldat Hans Scholl, seine zweiundzwanzigjährige Schwester Sophie und der ebenfalls fünfundzwanzigjährige Freund beider, Christoph Probst, im Gefängnis München-Stadelheim durch die „Fallschwertmaschine“ (NS-Jargon für die Guillotine) hingerichtet, am gleichen Tag, an dem sie am Vormittag vom eigens aus Berlin angereisten Präsidenten des Volksgerichtshofs Roland Freisler, in einem kurzen Prozess zum Tode verurteilt worden sind. Die Anklage lautete: „gemeinschaftliche Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens, der gemeinschaftlichen Feindbegünstigung und der gemeinschaftlichen Wehrkraftzersetzung“.
Angeklagt waren die drei Studenten und ihre Helfer, von denen Wochen oder Monate später noch Alexander Schmorell, Willi Graf und deren gemeinsamer akademischer Lehrer Kurt Huber hingerichtet und andere zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, so Robert Scholl, Hans’ und Sophies Vater, zu anderthalb Jahren wegen des Abhörens von Feindsendern. Die beiden Geschwister von Hans und Sophie, Inge und Elisabeth, kamen davon. Werner fiel an der Ostfront.
Die Geschichte der Scholl-Kinder, vor allem die Sophies, ist ebenso in die Schulbücher eingegangen wie die Anne Franks, die der Attentäter des 20. Juli, die Geschichte Dietrich Bonhoeffers; allesamt Opfer des nationalsozialistischen Regimes, das von 1933-1945 Deutschland beherrschte. Babara Beuys hat Sophie eine lange Biografie gewidmet Sophie. Darin wird die enigmatische Figur der Münchener Gruppe, die vom Pedell der Münchener Universität gestellt wurde, als sie und ihr Bruder selbstverfasste Flugblätter über die Brüstung des Innenhofs warfen erklärlicher gemacht. Dies geschieht, indem Beuys das viel gelesene Buch über „Die weiße Rose“, das Sophies Schwester Inge bereits 1952 veröffentlicht hat, und die zahlreichen historiografischen Studien über den „Fall“, ergänzt und die Legenden, die sich um Sophie gebildet haben, durch zahlreiche bislang unbekannte Fakten wenn schon nicht destruiert – es gibt nichts zu „destruieren“ – , so doch begreifbarer macht.
Beuys verfolgt die Geschichte der Scholl-Familie von der Ehe der Eltern, des Verwaltungsangestellten Robert und seiner Frau Lina. 1916 heirateten sie und bekamen rasch hintereinander ihre Kinder: Inge (1917), Hans (1918), Elisabeth (1920), Sophie (1921), Werner (1922) und Thilsa (ein sechstes, 1926 bereits als Säugling gestorben). Robert Scholl arbeitete damals als Schultheiß (Bürgermeister) in der schwäbischen Gemeinde Forchtenberg. Die Familie zog 1931 nach Ulm, wo Robert in einem Steuerberatungsbüro arbeitete, das er später übernahm. Eine bürgerlich-solide deutsche Familie, deren Tages- und Lebenslauf die fromme Mutter (die Diakonisse gewesen war, ehe sie den zehn Jahre jüngeren Robert geheiratet hatte) bestimmte. Eine Familie, in der die Kinder jederzeit eng zusammenhielten und nach 1933 denselben Weg nahmen: Sie gingen alle in die Hitlerjugend (beziehungsweise den „Bund Deutscher Mädel“) und wurden dort dank ihrer Leidenschaft für ein „bündisches Leben“, für „Fahrten“, gemeinsames Singen und Zelten (mit den dabei üblichen Mutproben) bald zu „Führern“ in ihren Einheiten.
Schwer vorstellbar, aber wahr: Die Scholl-Geschwister waren mit Lust bei der Sache. Auch noch, nachdem Hitler 1936 befohlen hatte, alle Jugendlichen in diese, seine Jugend zwangsweise aufzunehmen. Beuys beschäftigt sich ausführlich mit dieser Zeit, mit dem Bündischen der frühen Jahre, als die vielen verschiedenen bündischen Organisationen nacheinander entweder verboten wurden oder in der HJ aufgingen (etwa die der Evangelischen Kirche.) Die Autorin macht darauf aufmerksam, dass es vor allem für die Mädchen von hohem Reiz war, eigene Organisationen zu haben, die von ihresgleichen geleitet wurden. Dieser Reiz hat vor allem Ilse und Sophie angezogen: junge Mädchen, die von fast Gleichaltrigen geführt wurden. (Das hatte es auch in der bündischen Jugend kaum je gegeben – es waren männliche Bünde.) Die Eltern ließen ihre Kinder gewähren. Obwohl deren Ideen gewiss nicht die ihren waren, nicht die des skeptischen Robert, nicht die der frommen Lina: „’Fanatisch werden wir das Neue bauen, dessen großes Finale wir heute nur ahnen können. Fanatisch werden wir in die Unendlichkeit der deutschen Seele und des deutschen Geistes vorwärtsstürmen.’ War das auch bündisch? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Aber unbezweifelbar ist es nationalsozialistische Marschrichtung und Weltanschauung. So wollte Hitler die deutsche Jugend haben“, schreibt Beuys, die zunächst aus einem Elaborat der HJ Scholl zitiert.
Von dem Judengeläuf 1935 und dem „Gesetz zur Reinerhaltung des deutschen Blutes“ 1936 haben die Schollkinder Hans, Ilse und Sophie vermutlich bewusst nicht viel mitbekommen. Aber Hans hatte einen Streit mit einem anderen HJ-Führer, ohrfeigte ihn und legte seine Ämter nieder, ging jedoch weiter mit den Getreuen seines Fähnleins auf Fahrt.
Noch zog die Propaganda: „Die Losung von der Gleichheit fand – neben der von Freiheit – bei den Jugendlichen, die an einer anderen besseren Ordnung mitarbeiten wollten, begeisterte Aufnahme. Sophie praktizierte sie, wenn sie für ihre Jungmädel-Arbeit den Auftrag ernst nahm, den Klassendünkel und die Standesunterscheide zu beseitigen.“ „Sie muss eine gute „Führerin“ gewesen sein. Aber dann lernt sie 1937 den vier Jahre älteren Fritz Hartnagel kennen, der aus der bündischen Jugend kommt und Berufsoffizier werden will, und verliebt sich in ihn. Über der Lektüre der gleichen Bücher (im Hause Scholl wurde viel gelesen und Musik gemacht) geraten die Liebenden in einen ebenso heftigen wie schmerzhaften Diskurs, bei dem religiöse Fragen eine große Rolle spielen: Sie haben verdeckt natürlich mit Sexualität zu tun: Was darf man, was nicht? Das meiste nicht! Aus der schneidigen BDM-Führerin wird eine nachdenkliche Sechzehnjährige, die sich in der Welt umschaut und bemerkt: Sie ist nicht gut. „Von der HJ habe ich mich ohne mein Wollen ganz getrennt. Ich habe nichts mehr zu geben, nichts mehr zu nehmen“, schreibt Sophie in ihr Tagebuch.
Noch in ihrer Vernehmung gibt sie 1943 zu Protokoll: „Die Gründe meiner weltanschaulichen Entfremdung vom BDM und damit der NSDAP, etwa im Jahre 1938, liegen in erster Linie darin begründet, dass meine Schwester Inge, meine Brüder Hans und Werner im Herbst 1938 wegen sogenannter bündischer Umtriebe von Beamten der Geheimen Staatspolizei verhaftet und einige Tage bzw. Wochen in Haft gehalten wurden.“ Das war gewiss nur die halbe Wahrheit – aber es war eine. Die Familie hielt zusammen! Beuys schreibt dazu: „Aus dieser Aussage ist zu lernen, was den Nachgeborenen so schwer fällt: das die Realität der nationalsozialistischen Lebenswelt nicht in Schwarz-Weiss-Bildern fassbar ist. Gut und Böse liegen nicht sichtbar und säuberlich getrennt vor unseren Augen. Auch wer zum Gegner der braunen Ideologie wurde, konnte jahrelang Aktionen und Wirklichkeiten nationalsozialistischer Politik grundsätzlich bejahen und nicht erkennen, dass im Geheimen alle Politik auf verbrecherische Ziele zugeschnitten war.“
Dazu bedurfte es bei Sophie der Bücher, der oft entwürdigenden Zeit beim „Reicharbeitsdienst“ und der heftigen religiösen Auseinandersetzungen mit ihrem Freund Fritz, in denen sie immer die Stärkere war. Und des fanatischen Hitler-Gegners Otl Aicher, der als gläubiger Katholik und Freund von Hans den Geschwistern eine andere, eine Gegenwelt eröffnete. Nun lasen sie nicht mehr nur Rilke und Manfred Hausmann, sondern etwa den entschiedenen Hitler-Gegner Theodor Haecker (1879-1945, seine „Tag- und Nachtbücher“ sind erst nach dem Krieg erschienen, die Nazis hatten über ihn, den strengen Katholiken, totales Schreib- und Leseverbot verhängt). Hans und Sophie wurden Freunde von Carl Muth (1867-1944), dem langjährigen Herausgeber der seit 1941 verbotenen Zeitschrift „Hochland“, in welcher der Name Hitlers nie auftauchte. Otl Aicher hatte den Kontakt hergestellt, so kamen die Geschwister Scholl in diesen Kreis kritischer, auch kirchenkritischer „existentialistischer“ Katholiken, die wie Bernanos und Jacques Maritain den Faschismus für das Böse schlechthin hielten. Sophie muss deren Bücher, zusammen mit den „Bekenntnissen“ des Augustinus und Thomas von Aquins Philosophie, verschlungen und sie ihrem Fritz, der inzwischen Offizier war, dringend empfohlen haben.
Der Rezensent erinnert sich noch an die Kriegsjahre, in denen ihm diese Autoren zu Gesicht gekommen waren: Sie waren ein anderes Kaliber als die offizielle „Blut-und-Boden-Literatur – und ihre Faszination hat auch ihn ergriffen: Die klare, harte Humanität dieser Bücher (Bernanos konnte man in der Buchhandlung seines Vertrauens als „Bückware“ bekommen) vertrieb das Geschwafel vom Volk ohne Raum und vom „Schicksalskrieg“ gründlich. Das muss auch bei Sophie der Fall gewesen sein. Sie, die Beuys immer wieder als „Denkerin“ bezeichnet, muss wie ihr Bruder Hans lange gegrübelt haben, wie sie gegen das Regime, das sie nun als verbrecherisch erkannt hatte, etwas tun konnte. Die Älteren (Muth etwa und Haecker) verbargen sich auf dem Lande, warteten ab, horchten auf das Klingeln der Gestapo, das oft genug auch erfolgte, denn Hausdurchsuchungen waren bei ihnen häufig.
Die Jungen aber wollten etwas tun. Stalingrad und die unendlichen Menschenopfer taten ein Übriges. Sie verfassten die Flugblätter der „Weißen Rose“. Mutige (und naive) Elaborate, die sie an Freunde verschickten, in irgendwelche Briefkästen steckten. Die beiden letzten Flugblätter (für deren Versand sie Tausende von Kuverts und Briefmarken gekauft hatten) waren nicht mehr naiv, sondern politisch, nicht mehr nur empört, sondern konkret, sprachen von einer anderen Gesellschaft. Dass Deutschland den Krieg verlieren müsse, hatten Sophie, Ilse, Hans und Werner schon von ihrem Vater gehört: Er war darauf auch ohne spirituelle Belehrung gekommen, aber dass dieses Ceterum censeo bei den Scholl-Kindern einen religiösen Grund katholischer Herkunft hatte, das ist unzweifelhaft – auch wenn die Legende, Sophie und Hans seien vor ihrer Hinrichtung noch konvertiert, nur ein frommes ultramontanes Gerücht ist.
All das, die Ablösung von der NS-Ideologie, der offene Blick in die Welt und auf die mörderische NS-Praxis, war Hans und Sophie bewusst, als sie zur Tat schritten, Häuser in München mit Anti-Nazi-Parolen beschmierten und in der Münchener Universität in die Falle liefen. Dies waren keine idealistischen Twens mehr, dies waren entschiedene, verschworene Feinde Hitlers und seiner Satrapen. Aber das deutsche Volk wollte sie nicht hören, es brauchte noch mehr als zwei weitere Jahre voller Tod und Vernichtung und die Befreiung von außen, ehe ihm bewusst wurde, was Sophie und Hans Scholl und ihre Helfer schon 1943 wussten und sagten. Bis zum Tod unter dem Fallbeil.
Was Barbara Beuys Biografie so wichtig macht, ist ihre genaue Kenntnis all der Unterlagen, die nun aus dem Nachlass von Inge Aicher-Scholl in öffentliche Archive übergegangen sind und einen Einblick vor allem in die Tagebücher und Briefe Sophies ermöglichen. Da ist eine, die es sich unendlich schwer gemacht und dann bis zum Leichtsinn mutig gehandelt hat. Ihr hat Barbara Beuys ein literarisches Denkmal gesetzt, das ohne Vermutungen und Heroengeschichten auskommt, dafür aber das Bild einer mutigen jungen Frau setzt, die wusste, was sie tat, dank eines scharfen Denkens und der unabweisbaren Folgen.
Literaturangabe:
BEUYS, BARBARA: Sophie Scholl. Biografie. Carl Hanser Verlag, München 2010. 493 S., 24,90 €.
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