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Soziologische Studie über das Kochen

Jean Claude Kaufmanns Buch „Kochende Leidenschaft“

© Die Berliner Literaturkritik, 11.01.08

 

 

KONSTANZ (BLK) – Jean-Claude Kaufmann, einer der angesehensten und populärsten Soziologen Frankreichs bringe die Begriffe Liebe und Küche, Leidenschaft und Kochen spontan miteinander zusammen. Sein Buch „Kochende Leidenschaft“ sei spannend, unterhaltsam und lehrreich, lobt der UVK.

Kaufmanns Untersuchung gründe auf Empirie. Er beobachte Verhalten, Gespräche und Rituale bei Tisch und begleite Esser in verschiedenen Lebensphasen und -situationen. Kaufmann werfe einen Blick hinter die Kulissen, in den Kopf des Kochs, der noch immer meist eine Köchin ist – und befragt ihn nach seinen Gewohnheiten. Es sei spannend von Kaufmann zu erfahren, was das Kochen mit uns mache, wie es zu einem konstituierenden Element einer Partnerschaft, einer Familie werden könne. „Kochende Leidenschaft“ sei ein neuerlicher Beweis für Jean-Claude Kaufmanns außergewöhnliche Fähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnis und Alltagswirklichkeit miteinander zu verbinden.

Jean-Claude Kaufmann, geboren 1948 in Rennes, ist Soziologe am Centre National de la Recherche Scientifique der Universität Paris V - Sorbonne. (wag/wip)

 

Leseprobe:

© UVK ©

EINKAUFEN

Leider setzt das Kochen auch voraus, dass man schwierige Momente durchlebt, die diese schöne Harmonie der allseitigen Freude etwas trüben. Phasen, in denen man die Arbeit als mühsam empfindet, sind unvermeidlich. Am schlimmsten ist – nach einhelliger Meinung des tief betrübten Chors – das Einkaufen. „Dass ich einkaufen muss, das geht mir am meisten auf die Nerven“ (Hortense). Der Küchenchef, der sich bei dieser Gelegenheit in einen Chefeinkäufer verwandelt, kann nicht richtig verstehen, warum das so ist. Er ist sogar regelmäßig überrascht von der mentalen Belastung, die ihn im Laden überfallt. Denn das Einkaufen ist der große Moment der Wahrheit. Der Moment, in dem es ihm nicht verborgen bleiben kann, dass seine Funktion von einer unerhörten Komplexität ist, dass er unter verschiedenen Optionen der Ernährung, des Geschmacks, der Gesundheit, der Sparsamkeit wählen, sich eine künftige Architektur der sozialen Bindung ausdenken, sein eigenes kulinarisches Engagement den jeweiligen Umständen anpassen muss. Dies alles in wenigen Augenblicken, in denen er es nicht schafft, Ordnung in seine Gedanken zu bringen, während er seinen Einkaufswagen durch die langen Reihen von verlockenden Waren schiebt, die um seine Aufmerksamkeit buhlen. Niemand hatte ihm gesagt, dass Kochen eine solch intellektuelle Arbeit ist. Er fühlt sich allein. Erschöpft. „Am mühsamsten ist die Frage, was du einkaufen sollst, was du am Montag, Dienstag, Mittwoch … essen sollst“ (Clémentine). Dieses Gefühl der Mühsamkeit kann daher einzig mit dem Rückgriff auf das alte Pflichtgefühl oder gar die Opfermoral überwunden werden: sich den anderen hingeben, indem man seine Leidensfähigkeit unter Beweis stellt (Miller 1998, Devault 1991). Aber ohne zu sehr darüber nachzudenken. Im Gegenteil, der Chefeinkäufer redet sich ein, dass diese mentale Erschöpfung eine Geistesverwirrung ist, eine plötzliche persönliche Schwäche, für die es eigentlich keine Ursache gibt. Umso mehr versucht er, sie schnellstmöglich zu verscheuchen.

Wie ist dieses ärgerliche Gefühl der Mühsamkeit zu verringern, aus dem Kopf zu vertreiben? Der Küchenchef versucht, Taktiken zu ersinnen. Clémentine, die sich in Bezug auf den Haushalt noch in der Experimentierphase befindet, hat verschiedene Zeitabstände für ihre Einkäufe ausprobiert. Nachdem sie einmal im Monat eingekauft hat, was zu besonders erbärmlichen Resultaten geführt hat, hat sie auf eine radikal andere Option gesetzt und versucht, alle zwei oder drei Tage einkaufen zu gehen. Sie kam zum Schluss: „Das ist furchtbar.“ Kaum ist sie mit dem einen Einkauf fertig, muss sie schon an den nächsten denken. Sie hat daher einen neuen Rhythmus beschlossen; sie wird nun alle zwei Wochen einkaufen. Sie läuft Gefahr, eine unangenehme Überraschung zu erleben, denn wenn man die Zeitabstände zu sehr vergrößert, erweist sich das oft als eine Falle. Es handelt sich sicherlich um einen logischen Reflex. „Ach, es gibt nichts Mühsameres als einkaufen! Ich versuche, es so selten wie möglich zu tun“ (Melba). Leider muss für die seltenere Wiederholung dieser Last ein sehr hoher Preis bezahlt werden: Der mentale Druck wird bei den Großeinkäufen noch größer. Das Gefühl der Mühsamkeit ist dann zwar seltener, aber dafür stärker. Zwei Kriterien tragen zur Verstärkung des mentalen Drucks bei, der am Ursprung des Gefühls der Mühsamkeit steht: die Struktur des Haushalts und das Verhältnis zur Zeit. Je wichtiger einem die Familie ist, desto intellektuell komplexer ist die Arbeit. „Wenn die Familie groß ist, dann ist das Einkaufen eine Last“ (Olivia). Madeleine erinnert sich, wie erschöpft sie war, als sie alles vorherzusehen versuchte, als die Kinder noch zu Hause lebten. Heute mit ihrem Mann ist es einfacher, umso mehr als sie viel Zeit hat. Sie macht daher öfters „kleine Einkäufe“, die auch Spaziergänge durch das Viertel sind, Gelegenheit bieten, mit anderen ins Gespräch zu kommen; das Gefühl der Mühsamkeit ist fast verschwunden. Außer wenn sie ihre Einkäufe »auf die letzte Minute« verschiebt. Dann ist sie erstaunt darüber, wieder dieses Gefühl der Mühsamkeit zu spüren, das sie in die hinterste Ecke ihrer schlechten Erinnerungen verbannt zu haben glaubte. „Das ist mühsamer, es nimmt deine Gedanken vollkommen in Anspruch.“ Dies überrascht jedoch nicht im geringsten. Der unangenehme mentale Druck resultiert aus dem direkten Verhältnis zwischen der intellektuellen Komplexität der Probleme, die gelöst werden müssen (besonders bei einer großen Familie), und der Zeit, die man dafür einkalkuliert hat. „Die Einkäufe müssen gemacht werden, aber schnell“ (Maïté). Je mehr der Küchenchef glaubt, sich des Einkaufens entledigen zu können, desto mehr überkommt ihn das Gefühl der Mühsamkeit, das unvorhergesehen über ihn hereinbricht. Die Frauen, die beruflich in Anspruch genommen werden und die wesentlichen Aufgaben des Haushalts übernehmen müssen, sind ganz offenkundig die Hauptopfer. Allein der Luxus, über viel Zeit zu verfügen, verringert den Stress beim Einkaufen und macht es sogar zu einem Vergnügen. Einige haben sogar (ausführlich) sehr idealisierte Szenen des Glücks auf dem Markt beschrieben. Die anderen Einkäufe, die des gewöhnlichen Lebens, vergaßen sie lieber.

 

DIE LISTE

Der Küchenchef, der nicht genug Zeit hat, muss sich also subtilere Taktiken ausdenken. Als Erstes fällt ihm das Schreiben einer Einkaufsliste ein. Es gibt davon sehr unterschiedliche. Zum Beispiel werden (auf einer Schiefertafel, in einem Heft in einer Schublade) Grundnahrungsmittel notiert, die bald ausgehen, damit man sie am Schicksalstag nicht vergisst. Oder die hochinteressanten Planungslisten. Kleine und sehr große, ungefähre und detaillierte, regelmäßige und außergewöhnliche anlässlich eines großen Essens. Sie alle funktionieren nach demselben Prinzip: den Aufschub des mentalen Drucks durch eine zeitliche Distanz. Um eine allzu unangenehme Intensität im Laden zu vermeiden, bereitet der Küchenchef die intellektuelle Arbeit vor. „Ohne das ist man im Laden …, das mag ich nicht“ (Amandine). Die Liste kann die diversen Produkte sogar in verschiedene Abteilungen gliedern, in denen man sich vergegenwärtigt, wo man mit seinem Einkaufswagen hin muss (Lahire 1998). Manche zögern nicht (wenn sie dazu ausreichend disponiert sind), sich dieser Planungstätigkeit ausführlich und organisiert zu widmen. „Ich bin gern gut organisiert, ich habe es nicht gern, wenn ich nach dem Einkaufen merke: Ach, dies habe ich vergessen und jenes. Schon wenn ich morgens aufstehe, fange ich an nachzudenken, was ich mittags kochen werde“ (Maryse). Sogar Maïté bringt damit lieber etwas Zeit zu, um das Gefühl der Mühsamkeit im Laden zu verringern, das trotz der regelmäßigen Einfachheit ihrer Einkäufe aufkommt. „Ich schreibe freitags meine Liste, markiere, was wir am Samstag und Sonntag essen werden.“ Leider lauert ein neues Hindernis. Der Küchenchef, der sich der Planung übertrieben widmet, hat größere Schwierigkeiten, „eine Idee zu bekommen“, wenn er alles zu genau und zu weit im Voraus plant. Er glaubte sich von einer Last zu befreien und beschwört eine andere herauf. Umso mehr, als das Schreiben von Listen auf einer weit verbreiteten Illusion beruht. Diese basiert auf dem irrigen Glauben, dass alles planbar ist, dass die armselige Aufzählung auf einem kleinen Stück Papier alles sagen kann. Dabei umreißt sie nur winzige Bruchstücke. Vergessen wir nicht: Der Küchenchef muss eine ganze Familienarchitektur konstruieren; die Liste zählt nur eine (oft sehr unvollständige) Reihe von Produkten auf. Deshalb denkt er sich in Wirklichkeit oft zwei Listen aus. Die eine, deutlich sichtbare ist ordentlich auf dem kleinen Stück Papier niedergeschrieben und enthält vorzugsweise die Grundnahrungsmittel, die nicht vergessen werden dürfen. Dazu kommt noch die andere Liste „im Kopf“. „Ich mache mir eine Liste im Kopf: Hör mal, ich werde Folgendes machen …“ (Maryse). Die Liste im Kopf ist zugleich flexibler und ambitionierter, sie verjagt ein sehr viel größeres Gespenst und umfasst Bilder der Familie und Szenarien eines möglichen anderen Lebens. Außer für die großen Essen, die genau geplant werden, ist sie im Allgemeinen nur eine Skizze, die verhindert, dass man allzu unvorbereitet in den Laden kommt, und wartet nur darauf, von besseren Ideen verworfen zu werfen. „Ich habe immer so meine Vorstellungen. Gut, im Laden kommt es vor, dass ich zu mir sage: Hör mal! Nein! Das werde ich nicht machen, entgegen dem, was ich zuvor dachte. Ja, es kommt vor, dass ich es mir anders überlege, je nachdem was ich im Laden sehe“ (Hortense).

Mehr oder weniger vorbereitet, mit einer geschriebenen Liste bewaffnet oder nicht kommt der in einen Chefeinkäufer verwandelten Küchenchef in den Laden. Zu Beginn ist seine Liste ein kostbarer Trumpf. Er begibt sich zu Waren, die den tröstlichen Anschein bloßer Gegenstände haben. Auch ohne Liste beginnt er die Regalreihen oft ohne allzu große Unannehmlichkeiten abzuschreiten. Eine schillernde Welt aus Lebensmitteln und Marken bombardiert ihn mit tausend neuen Ideen: Existenzen, die er nicht für möglich gehalten hat, sind in Reichweite. Viel zu viele Ideen, zu viele andere Leben. Die mentale Belastung beginnt ihr ganzes Gewicht zu entfalten. Das Gebot der Stunde ist dann nicht mehr zu träumen, sondern, im Gegenteil, die Möglichkeiten einzuschränken. Er muss eine (kohärente und solide) Architektur der Zukunft konstruieren und ausarbeiten, Risiken (in Bezug auf die Ernährung und die Beziehungen) umgehen. Unter den unendlichen Möglichkeiten muss er sich entscheiden.

© UVK ©

Literaturangaben:
KAUFMANN, JEAN-CLAUDE: Kochende Leidenschaft. Soziologie vom Kochen und Essen. Deutsch von Anke Beck. UVK, Konstanz 2006. 372 S., 19,90 €.

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