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Sport ist Mord

„Der Gesundheitswahn – Vom Glück des Unsportlichseins“ von Midas Dekkers

© Die Berliner Literaturkritik, 11.09.08

 

MÜNCHEN (BLK) – Im August 2008 ist das Sachbuch von Midas Dekkers „Der Gesundheitswahn – Vom Glück des Unsportlichseins“ im Blessing Verlag erschienen.

Klappentext: „Ein gesunder Geist in einem gesunden Körper.“ Nach diesem Motto wurden Generationen von Schulkindern gequält, werden unsportliche Menschen belächelt und gleichzeitig Sportheroen kritiklos verehrt. Alles Schwachsinn, sagt der bekannte niederländische Biologe und Bestsellerautor Midas Dekkers und schlachtet in diesem Buch wortgewaltig die Heiligen Kühe der Sportfreaks und Fitnessgurus. Denn Sport hat schon viele krank, aber noch niemanden gesund gemacht. Der Mensch hat es unvorstellbare anderthalb Jahrtausende ohne Sport ausgehalten. Er war einfach vollkommen unnötig. Bis eine idealistische Bewegung im 19. Jahrhundert auf den Gedanken kam, dass über den Körper auch der Geist geformt werden könne. So entstand ein Körperkult, der auch totalitären Regimen gefiel und der bis heute wirkt. Doch für Midas Dekkers ist der Geist nur der Chauffeur eines Vehikels, dessen Gebrauchsanweisung er nicht einmal kennt, sonst hätte dieser Geist niemals den Sport erfunden. Denn niemand kann durch Sport sein Leben verbessern oder gar verlängern. Im Gegenteil: Die Chancen auf einen frühen Tod steigen. Die vielen Stunden in Fitnessclubs und beim Jogging im Park sind reine Zeitverschwendung. Und Geldschneiderei. Denn von dem wahnhaften Glauben vieler Menschen an einen „gesunden“ Körper profitiert eine ganze Industrie, die Hand in Hand mit Regierungen und Versicherungen arbeitet.

Midas Dekkers, Jahrgang 1946, ist der bekannteste und populärste Biologe Hollands und ein herausragender Essayist. Seine Bücher sind Bestseller, seine Hörfunk- und Fernsehsendungen Quotenrenner; er gilt als der „Grzimek der Niederlande“. „Geliebtes Tier“ und „An allem nagt der Zahn der Zeit“ waren große internationale Erfolge. (bah/vol)

 

Leseprobe:

© Blessing Verlag ©

Zwischen Traum und Tat

Eigentlich steckt alles irgendwo drin: die Kröte im Schild, das Tier im Menschen, die Nase manchmal in fremden Angelegenheiten, ein Text im Buch, das Glück in der Erinnerung. Und das ist auch gut so. Solange der Urin in der Blase bleibt und der Teufel im Detail, stört das keinen.

Auch der Mensch steckt irgendwo drin. Im Körper. Da gehört er auch hin. Wie ein geübter Chauffeur benutzt der Mensch Arme und Beine und dreht den Kopf, um der flotten Biene hinterherzusehen. Der Körper bietet dem Menschen Ablenkung und Information. Als Gegenleistung versorgt der Mensch den Körper mit Nahrung und lässt ihn diskret beiseite treten, wenn sich dieser erleichtern muss. Ist der Körper krank, bringt er ihn zum Arzt und leidet mit ihm mit. Man ist Chef im Haus, der Zwerg, der den ganzen großen Leib führt und leitet, Herrscher über hundert mal tausend mal tausend mal tausend mal tausend Zellen. Bis in die entferntesten Winkel der Finger und Zehen ist der Wille Gesetz. Man regiert wie ein aufgeklärter Despot. Wer sonst könnte dem ganzen Tohuwabohu sonst sagen, wo’s lang geht? Hoch über den Wolken scheint eine Boing 747 ganz von allein zu fliegen; eine unbeirrbare Mechanik, um so viel selbstständiger als die ersten winzigen Fokkermaschinen, die von ihrem Aviateur geritten wurden, aber ist die Maschine wieder am Boden, sieht man das Machthaberlein hinter den Cockpitfenstern sitzen, den Zwerg, der dieses riesige Ding in die Gänge bringt und steuert. Könnte man durch die Augen eines Elefanten in dessen Inneres schauen, sähe man mit Sicherheit dort das eigentliche Tier, einen Minielefanten, dessen Rüssel kundig an den Schaltknöpfen fummelt.

Man sitzt im eigenen Körper. Aber wo? Nimmt ein Mensch seinen ganzen Körper in Beschlag oder steht er auf einer Art Brücke am Steuer? Dieses Rätsel ist mithilfe eines Experiments leicht zu lösen, eines Gedankenexperiments wohlgemerkt. Fangen Sie einfach damit an, sich Ihr rechtes Bein abzusägen. Zwar fällt das Gehen jetzt etwas schwer und der Körper hat tüchtig Schlagseite, aber man ist doch noch zu hundert Prozent man selbst. Mit der Amputation des linken Fußes und der beiden Arme ändert sich das nur unmaßgeblich. Danach kommt der schwierigere Teil des Auftrags. Schicht für Schicht wird der Körper abgetragen, Organ für Organ entfernt und wenn nötig durch eine Prothese ersetzt. Das Herz macht Platz für eine Pumpe, die Lungen sind aus Eisen, das Blut wird dialysiert. Und trotzdem spürt man sich noch. Um sich für einen anderen zu halten, müsste man sich das Gehirn transplantieren lassen. Doch auch dann hielte sich das Gehirn noch immer für sich selbst, entgeistert würde es sich fragen, wie zum Teufel es im Körper eines anderen landen konnte, wie einer, der jeden Tag mit dem Fahrrad zur Arbeit fährt und plötzlich merkt, dass er auf dem falschen Fahrrad sitzt. Bis zum Absurden herabreduziert, erkennt man, dass das eigentlich Bewundernswerte am ganzen Körper der Dachboden ist, ja, eigentlich nur das Gehirn und davon wiederum nur die Rinde. Im Hirn toben die Gedanken, spielen die Gefühle Theater, dort wird gehasst und geliebt. Man wohnt in den eigenen Gedanken, und die hausen im Kopf; man ist Untermieter bei sich selbst, mit lebenslangem Hausarrest. Das Gehirn ist der Inhalt, der Rest nur Verpackung. Würde man jeden Niederländer direkt nach der Geburt auspacken, dann passte die gesamte Bevölkerung Hollands in kürzester Zeit auf die kleine Insel Schiermonnikoog.

Ich glaube nicht, dass irgendjemand Gefallen an diesem Zustand fände. Das Gehirn bekäme nie etwas vor Augen, worüber es nachdenken könnte, gelangte nie zu spannenden Orten, hätte kein Fleisch, womit es seinen hirnlichen Gelüsten frönen könnte. Um dem abzuhelfen, könnte man eine Kamera ans Gehirn montieren, vielleicht mit Rädern drunter, und ein paar unterhaltsame Utensilien aus dem Sexshop besorgen. Würden sich alle isolierten Gehirne zusammentun, hätten sie das Problem bald behoben, und nach einigen Jahren härtester Arbeit wäre er fertig: der neue Mensch mit allem Drum und Dran, der Traum jeder Gehirnzelle. Alles wäre baff vor Erstaunen. Vielleicht wäre er ja gar nicht als Mensch erkennbar, aber man sollte sich auch nicht wundern, wenn er genau so aussähe wie Sie und ich, mit dem gleichen Körper von heute, das heißt dem, der sich in Millionen von Jahren durch die Evolution herausgebildet hat. Ihr Gehirn ist in Ihrem Körper in guten Händen. Umgekehrt übrigens auch.

Nur wenige dürften ein Problem damit haben, sich selbst als Kapitän im eigenen Körper vorzustellen, als Zwerg im Kopf. Wer aber steuert den Zwerg? Längst ist nicht immer klar, wer, wo, wann an welchen Strippen zieht. Morgens zum Beispiel, unter der Dusche. Jeder kennt das, halb schläft man, halb ist man wach. Unterm warmen Wasser durchfluten Gedanken träge das Gehirn. Nützliche wie, was man nachher zu tun gedenke, und bisweilen welche, die einfach gedacht werden wollen. Doch auf einmal drängt sich eine Frage auf: Sag mal, ich pinkle jetzt doch nicht, oder? Kennen Sie das? Auch dass man sich dann erst mit einem Schritt außerhalb des Wasserstrahls begeben muss, um herauszufinden, ob man tatsächlich tut, was zu tun man gerade befürchtet? Kennen Sie das tatsächlich, dann haben Sie bereits Bekanntschaft mit Ihrem autonomen Nervensystem gemacht. Dieser Kollege und Konkurrent des Gehirns, das Sie sich bereits vollkommen untertan gemacht zu haben glaubten, bildet einen Staat im Staat. Es regelt alles, wofür Sie zu dumm sind. Er weiß, wie schnell Ihr Herz schlagen muss, wie viel Speichel Sie dem Essen beimengen müssen und was Sie tun müssen, um nicht vom Fahrrad zu fallen. Sie dürfen sich zu einem so praktischen und aufmerksamen Nervensystem gratulieren. Doch manchmal arbeitet es zu autonom, wovon jene Männer ein Lied singen können, die schon mal im Krankenhaus von der Schwester mit der netten Stimme und den sanften Händen gewaschen wurden. Dann meldet sich das allerautonomste Körperteil, das man hat. Eins, dem ein Befehl wie „Leg dich sofort hin!“ vollkommen schnuppe ist. So was kann äußerst peinlich sein. Da hilft dann nur, sich gedanklich in die möglichen Komplikationen beim Züchten von Koniferen zu vertiefen oder sich einen sechswöchigen Ferienaufenthalt in Hinterdupfingen auszumalen.

Ganz wie die eigenen Kinder können einen die eigenen Organe tüchtig in Verlegenheit bringen. Man errötet bei den unpassendsten Gelegenheiten, der Magen knurrt laut, während man gerade eine enthusiastische Rede hält, oder der Enddarm beschließt zur falschen Zeit, Luft abzulassen. Gerade noch fühlt man sich als Herr und Meister über den schönsten Apparat auf Erden, und im nächsten Augenblick rennt man seinem Schwanz in Richtung der liderlichsten Huren von Amsterdam hinterher oder führt seinen wiederum vom Heroin abhängigen Körper direktamente in den Untergang. Will man wach bleiben, fällt der Leib in Schlaf, will man eine tüchtige Tagesstrecke Wanderschaft zu Ende bringen, versagen die Füße den Dienst. Hin und wieder hat man den Eindruck, der Körper will einem im Krankenbett ans Leder, was dann letztendlich ja auch geschieht, wenn das Eigenheim seinen vermeintlichen Besitzer für immer zum Schweigen bringt. Stirbt der Wirt, also der Körper, sterben die Parasiten mit, egal ob Bandwurm, Follikelmilbe oder Geist.

Einen Bandwurm oder eine Milbe kann man, tot oder lebend, im Körper leicht aufspüren, wo aber soll man nach sich selbst suchen? Sich selbst anfassen geht ja nicht. Bein oder Hals ja, aber nicht das eigentliche Selbst; man kann dem Zwerg im Kopf nicht die Hand schütteln. Sogar wenn man nicht nur die Arme und die Beine, das Herz und die Leber, sondern auch noch den Kopf bis auf den letzten kleinen Batzen Hirn abzwacken würde, man stieße auf nichts, was man als den eigentlichen Menschen bezeichnen könnte. Versteckt er sich? Dann müsste man ihm zwangsläufig irgendwann mal begegnen. Tatsache ist, dass das Wesen, das unseren Leib führt und leitet, keinen eigenen Körper besitzt. Es hat weder Stuhlgang noch nimmt es Nahrung zu sich. Das alles deckt sich übrigens mit der für Intellektuelle beschämenden Erkenntnis, dass das Denken keinerlei Energie erfordert. Während man beim Anheben des kleinen Fingers immerhin noch den Bruchteil einer Kalorie verbrennt, lebt der, der einen führt und leitet, von noch weniger als Luft. Für einen modernen Biologen hat sich die Angelegenheit damit erledigt. Körperlose Wesen mit eigenem Willen sind nicht sein Metier. Das war mal anders. Körperlose Wesen mit eigenem Willen, egal welcher Art und welcher Größe, sind seit Urzeiten bekannt: Engel und Teufel, Elfen und Dämonen, Gespenster, ein ganzes Reich von Geist und Geistern.

© Blessing Verlag ©

Literaturangaben:
DEKKERS, MIDAS: Der Gesundheitswahn. Vom Glück des Unsportlichseins. Übersetzt aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm. Blessing Verlag, München 2008. 416 S., 19,95 €.

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