Von Klaus Hammer
Vor hundert Jahren veröffentlichte der italienische Dichter Filippo Tomaso Marinetti in der Pariser Tageszeitung „Le Figaro“ das „Erste Futuristische Manifest“, dem noch viele weitere zur futuristischen Malerei, zur Plastik und Architektur folgen sollten. Darin forderte Marinetti eine antiklassizistische, auf die Zukunft gerichtete Kunst, die in ihren Ausdrucksformen dem dynamischen Geist der modernen Technik und großstädtischen Massengesellschaft entsprechen sollte. „Wir wollen die kämpferische Bewegung, die fiebernde Schlaflosigkeit … und den Faustschlag preisen. Wir erklären, dass der Glanz der Welt um eine neue Schönheit reicher geworden ist, um die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennautomobil … ist schöner als die Nike von Samothrake.“
Das Schlagwort Futurismus steht für die Verherrlichung der Technik, der Geschwindigkeit und des vitalen Lebens. Marinetti, der die Mythologie und das Ideal überwinden wollte, lieferte einen neuen Mythos, die mythische Vision einer neuen Welt. Das war die Geburtsstunde des Futurismus, einer Bewegung, die die gesamte europäische Avantgarde beeinflussen sollte. Bereits 1912 fand in der Berliner Galerie Herwarth Waldens, „Der Sturm“, die erste deutsche Futuristen-Ausstellung statt, zu der der gewiefte Kommunikationsstratege Marinetti Unter den Linden Flugblätter aus dem fahrenden Auto verteilte. Der Futurismus war merkwürdig gespalten: Auf der einen Seite ein übersteigerter Geniekult und politisches Elitärdenken, das um 1919 zur Unterstützung des faschistischen, staatsautoritären Systems in Italien führte, auf der anderen Seite ein sozialkritisches Engagement und ein zukunftsweisendes multimediales Kunstdenken, das die modernen Medien der Technik in die Kunst einbezog.
Zum 100-jährigen Jubiläum des „futuristischen Manifests“ wird im Martin-Gropius-Bau eine große Futurismus-Ausstellung präsentiert, die die neue Ästhetik des Alltäglichen in ihren verschiedenen künstlerischen Ausdrucksformen - in der Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, im Theater und in der Fotografie - vorführt. Der größte Teil der Arbeiten kommt aus dem Museo di Arte Moderne e Contemporanea di Trento e Rovereto, in dessen Sammlung sich über 4000 futuristische Werke befinden, und die Direktorin dieses Museums, Gabriella Belli, kuratiert auch diese nur in Berlin gezeigte eindrucksvolle Schau (bis 11. Januar 2010).
Der dazugehörige, reich mit Abbildungen ausgestattete Katalog ist nicht ein Begleitbuch zur Ausstellung, sondern ein eigenständiges Kompendium des Futurismus, er informiert über die Geschichte und Geisteshaltung, die Protagonisten und Werke, die Medien und Gattungen, Themen und Motive dieser Bewegung, die ein „Gesamtkunstwerk“ schaffen wollte. Drei grundsätzlichen Beiträgen von Gabriella Belli („Der italienische Futurismus – Protagonisten und Ereignisse“), Ester Coen („Vorboten des Futurismus“) und Ursula Prinz („Futuristen in Berlin“) schließen sich aufschlussreiche Kapitel über die einzelnen Medien Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Theater und Fotografie an. Biografien der wichtigsten Futuristen und eine Chronologie der futuristischen Bewegung schließen den Band ab.
Anstelle einer ausführlichen Rezension sollen hier nur einige Aspekte erörtert werden, die beim Blättern im Buch ins Auge fallen. So bei den typographischen Collagen der Futuristen, wie „Zang Tumb Tuum“ (1914) und „Futuristische Worte in Freiheit“ (1919) von Marinetti. Hier sind Zahlen und Worte aus ihrem informativen Zusammenhang entlassen und stürzen wie ein entfesseltes Inferno von Statistiken, Rubriken, Schlagzeilen, Additionen auf den Betrachter zu. Dieser ist ihnen völlig ausgeliefert, ohne sie bewältigen und verarbeiten zu können. Gleichzeitig fühlt sich der Betrachter aber aufgerufen, die Buchstaben, Silben und Wortfetzen nachzuformen und so das Bild auch als Geräuschfolge in sich aufklingen zu lassen, die vom Stammeln und Flüstern bis zum Geschrei und Getöse reicht.
Für die Künstler, die sich vor dem Ersten Weltkrieg um Marinetti geschart hatten, bestand das Problem darin, wie man seine Vision in Farbe umsetzen sollte. Die erste Möglichkeit schien sich aus einer Technik zu ergeben, bei der man Licht und Farbe in eine Oberfläche aus Tüpfelchen auflöste, ein Abkömmling des französischen Neoimpressionismus, der in den 1990er Jahren von italienischen Malern unter dem Namen Divisionismus zu einem System ausgearbeitet worden war. So konnte man Dynamik gliedern und die der Farbe auf Leinwand innewohnende Unbeweglichkeit umgehen.
Umberto Boccioni, der wohl Begabteste unter den jungen futuristischen Künstlern, malte ein Bild „Die Stadt erhebt sich“ (1910/11), in der der Aufbruch der Großstadt in einer Kraft-Metapher wiedergegeben wird: Ein muskulöses rotes Pferd scheint sich im dynamischen urbanen Treiben durch die Kraft seiner eigenen Energie im Flimmern tanzender Pinselstriche aufzulösen. Aber das Problem, wie Bewegung zu malen war, blieb bestehen, und so nahmen die Futuristen Zuflucht zum Kubismus und der Fotografie. Die neue Technik des Röntgens, Bilder, auf denen undurchsichtige Körper durchsichtig wurden und so kubistische Transparenz und Überschneidung erhielten, faszinierte sie. Man fotografierte die Bewegungsabfolgen einer Figur auf nur einer Platte und konnte so die zeitliche Dimension in die räumliche übertragen. Der Körper hinterließ in der Luft eine Erinnerung an sein Vorübergehen.
Einige von Giacomo Ballas Gemälden waren detailgenaue Umsetzungen dieser Fotos. „Bewegungsrhythmus eines Hundes an der Leine“ (1912), ein kurzer Blick auf das Boulevardleben, ist wahrscheinlich aus einer Nahaufnahme entstanden. Eine modisch gekleidete Dame (nur ihre Füße sind sichtbar) führt ihren Dachshund, sozusagen das „Sportauto“ unter den Hunden, den Bürgersteig entlang spazieren. Von 1913 an malte Balla Bilder von sich bewegenden Autos in einer unbestimmten Bildwelt von schnellen Übergängen, von Glitzern und Spiralen, von Perspektiven mit Stakkatounterbrechungen, kubistischer Durchsichtigkeit und drängenden, unerbittlichen Diagonalen.
Der Betrachter, so erklärte Boccioni in einem der futuristischen Manifeste, „muss in Zukunft in der Mitte des Bildes platziert“ und der ganzen Umwelt von flirrenden Linien, Ebenen, Licht und Lärm ausgesetzt werden, die der Futurismus aus seinen Motiven herausholte. Das bedeutete Abschaffung des Gemäldes als Schaubühne, „dies kleine Viereck, auf dem das Leben künstlich komprimiert wird“. In dem Bild „Der Lärm der Stadt dringt ins Haus“ (1911) wollte Boccioni die ganze Summe der optischen Erfahrungen eines auf dem Balkon stehenden Menschen wiedergeben: „Dieses erfordert eine Simultaneität der Umwelt und folglich Verschiebung und Verformung von Gegenständen und Durchdringung von Details, die von überlieferten logischen Zusammenhängen befreit sind.“ Der Betrachter selbst ist die Figur auf dem Balkon und er erlebt all das mit, was da auf der Straße vor sich geht, er sitzt selbst in der rüttelnden Droschke, deren Bewegung sein Blickfeld dauernd verschiebt: nach oben und nach unten und gleichzeitig vorwärts.
Zweifellos hätte sich der Futurismus ohne kubistische Vokabeln wie „Verschiebung“ und „Verformung“ nicht verwirklichen können. Boccionis sich neigende Häuser stehen in direkter Beziehung zu Delaunays Eiffeltürmen. Aber der Unterschied zwischen dem emotionalen Temperament des Kubismus und des Futurismus war extrem, wie Gino Severinis „Dynamische Hieroglyphen vom Bal Tabarin“ (1912) beweist, das nur so überschäumt von Hektik. Ein wildes Knäuel von Assoziationen, fragmentartig, aber von großer Gefühlsintensität, im zuckenden, packenden Rhythmus der „Popmusik“ der damaligen Zeit. Alles erweckt den Eindruck einer außer Kontrolle geratenen Maschine, einer Vergnügungsmaschine, die das verrückte und marionettenhafte Wesen jener öffentlichen Unterhaltung widerspiegelt, das andere Künstler in der Massenkultur zu erkennen begannen.
Den Vogelflug hat Fortunato Depero in „Bewegung eines Vogels“ (1916) zu einer abstrakten Bewegungsmetapher komprimiert. Er synthetisiert plastische Formelemente zu einer komplexen Vorstellung von Bewegung, einer rotierenden Drehbewegung. In dem Gemälde „Mechanik der Tänzer „ (1917) stellt er zwei mechanische Puppen in einen ortlosen geometrischen Raum. Die zwei Marionetten durchdringen sich in der Überschneidung einzelner Formelemente – und so wird eine tänzerische Bewegung, die einem Pas de deux entspricht, angedeutet.
Boccioni wandte sich nach 1912 der Plastik zu, er versuchte die Durchdringung von Körper und Raum und veranschaulichte das Element der Zeit als Dimension der Bewegung durch ein abstraktes Wechselspiel von konvexen und konkaven Flächengliederungen. In „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“ (1913) wird die dynamische Energie während des Voranschreitens des Körpers freigegeben, der die Luft schneidet und die Dichte der Atmosphäre zerbricht. Deperos „Vorschnellen eines Fisches“ (115) dagegen fasst in einem einzigen komplexen Momentbild die blitzschnelle und flüchtige Linearität des Sprungs im Wasser zusammen.
In seiner Holzplastik „Konstruktion eines Mädchens“ (1917) ist aus verschiedenen Formelementen (Scheiben, Quadrate, Zylinder, Dreieck, gedrehte Säulen) eine abstrakte Figuration von spielerischer Leichtigkeit zusammengefügt. Das Mädchen in seinem blau-roten Rock steht dabei nur auf einem Bein und deutet, unterstützt durch die beiden geschraubten Säulen, eine Drehung, eine Rotation an. Renato Bertelli schließlich greift eine klassische Idee des politischen Cäsarismus wieder auf und nutzt in „Unendliches Profil“ (1933) das Mittel der Drehung, um den Kopf Mussolinis sich in alle Richtungen wenden zu lassen. Der Diktator sieht und weiß alles, er ist überall, nichts entgeht ihm. Das ist eines der wenigen in der Ausstellung gezeigten Beispiele für die Affinität des Futurismus zum Faschismus in Italien.
Bereits 1916 schuf Depero das Ballett „Minismagia“ und ließ die auf der Bühne agierenden Figuren sich in Marionetten verwandeln. Nur ein Jahr später entwickelte er im Auftrag von Serge Diaghilev, dem Leiter des Ballets Russes, für den „Gesang der Nachtigall“ ein Aufsehen erregendes Bühnenbild. Er bestückte die Bühne mit abstrakt geometrischen Formelementen, stacheligen Blumen aus Metall und Figuren aus Holz und Blech. Diaghilev empfand diese grellbunten, fantastischen Szenerien wohl als zu dominant für die lebendige Leichtigkeit, mit der seine Tänzer agieren sollten, und bat Matisse um eine eher klassische Lösung. Deperos Entwürfe wurden aber 1981 für die Wiederaufführung des Balletts in der originalen Choreografie von Léonide Massine in Venedig realisiert – und die Rekonstruktion diese Szenografie Deperos kann man in der Ausstellung bewundern.
Mit Carlo Carrà und Luigi Russolo zog auch die Musik in das breitgefächerte Medienrepertoire des Futurismus ein. Carrà verfasste 1913 das Manifest „Die Malerei der Töne, Geräusche, Gerüche“ und bezog darin das futuristische Prinzip der Simultaneität - die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Eindrücke – auf die sinnlichen Bereiche des Sehens, Hörens und Riechens. Russolo fügte den drei Kategorien „Aufbruch“, „Stille“, „Klang und Geräusch“ das „Klang-Geräusch“ hinzu, das unendlich wandelbar ist und von den Maschinen der Gegenwart erzeugt wird. Russolos „Kunst der Geräusche“, für die er auch eigene Geräuscherzeuger für das Brausen, Knistern, Rauschen, Quaken usw. konstruierte, vermittelte Komponisten wie Honegger, Varèse, Schaeffer, aber auch John Cage wesentliche Impulse.
Mit dem Tod Marinettis 1944 ist auch das Ende der Bewegung anzusetzen. Eine scharfe Profilierung des Futurismus war wohl auch durch dessen ambivalente Haltung zur faschistischen Diktatur nicht möglich. Von der eigentümlichen Gespaltenheit der Futuristen zeugt auch die Tatsache, dass Herwarth Walden, der sich nicht nur mit seiner ersten deutschen Futurismus-Ausstellung 1912, sondern auch später unermüdlich für den Futurismus eingesetzt hatte, als kommunistischer Emigrant ein Opfer des Stalinismus wurde, während sein Mitarbeiter Ruggero Vasari vergeblich versuchte, die futuristische Kunst als Kunst der neuen nationalsozialistischen und faschistischen Bewegungen zu deklarieren. Seit 1934 galt auch der Futurismus in Hitler-Deutschland als „entartete Kunst“.
Ausstellung und Katalog sollten der längst fällige Anlass sein, neu über den Futurismus und seine Stellung in der europäischen Avantgarde nachzudenken.
Literaturangabe:
BERLINER FESTSPIELE GmbH: Die Sprachen des Futurismus: Literatur, Malerei, Skulptur, Musik, Theater, Fotografie. Jovis Verlag, Berlin 2009. 309 S., 32 €.
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