Von Gerd Korinthenberg
DÜSSELDORF (BLK) – Demonstrationen gegen Vietnamkrieg und Notstandsgesetze, Debatten über Revolution und Hochschulreform: 1968 hat nicht nur im politischen und sozialen Leben der Bundesrepublik Folgen gezeigt und „Opas“ Nachkriegsstaat zu einem liberalen Gemeinwesen geformt. „Auch sprachgeschichtlich stellt 1968 eine Zäsur in der Bundesrepublik dar“, ist sich der Sprachwissenschaftler Martin Wengeler von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sicher. Eine bis heute aktuelle Diskussion um politische Korrektheit bei der Wortwahl und generell „sprachsensibles Verhalten, das ist eine Spätfolge von 1968“, meint der Experte. Populärstes Beispiel hierfür ist das weibliche „I“, wenn es beispielsweise um „LehrerInnen“ oder „BürgerInnen“ geht.
Es ist allerdings nicht nur die „richtige“ Verwendung der Begriffe, um die vor vier Jahrzehnten zunehmend ein linguistischer Kampf tobte: „Die Sprache selbst wird verstärkt zum Thema“, erklärt der Sprachwissenschaftler. Das theoretische Unterfutter dazu lieferte der Lieblingsphilosoph der Linken, Herbert Marcuse (1898-1979), der die gängige öffentliche politische Sprache als „eine der wirksamsten ‚Geheimwaffen’ von Herrschaft und Verleumdung“ kritisierte.
Diagnostiziert der Düsseldorfer Wissenschaftler vor 1968 „eher eine Sprachkritik von oben“, bei der Politiker oder Wirtschaftsführer ihr Verständnis von Wörtern wie „soziale Marktwirtschaft“ oder „Demokratie“ durchsetzen, so erobern die „68er“ etwa mit dem Kniff einer sprachlichen „Dynamisierung“ die Diskussionen. Bis dahin starre Begriffe gerieten in Bewegung: So wurde etwa aus dem Begriff „Demokratie“ dabei die aufmüpfige „Demokratisierung“, die auf etwas ständig zu Verbesserndes hinweist, ermittelte der Linguist bei der Untersuchung der öffentlichen Sprache. Damals populäre Verben aus dem Wissenschafts-Jargon wie hinterfragen, umfunktionieren, reflektieren wiesen in eine ähnliche Richtung.
Mit sicherem konservativen Instinkt hatte schon 1973 Kurt Biedenkopf beim CDU-Parteitag gefordert, die Begriffe zurückzuerobern und „wieder den Mut zu haben, auch in der Politik deutsch zu sprechen“. Und noch jüngst erinnerte sich auf einer Linguisten-Tagung in Düsseldorf der damalige RCDS-Bundesvorsitzende Wulf Schönbohm, dass die 68er mit einem „neomarxistischen Jargon“ das System bekämpfen wollten.
Noch nicht sprachwissenschaftlich untersucht sei, welche Begriffe der Zeit bis heute überdauert haben, schildert Heidrun Kämper vom Institut für Deutsche Sprache in Mannheim einen Aspekt ihres sprachgeschichtlichen Forschungsprojektes zu 1968: Damals gängige Wörter wie „repressive Toleranz“ oder „Entfremdung“ führten heute wohl eher in linken Insiderkreisen ihr Eigenleben; „Ausbeutung“ sei im Zusammenhang mit Niedriglöhnen aktuell wieder aufgetaucht und das studentische „Sit-In“ im „besetzten“ Hörsaal habe sich seit den 1980er Jahren zur „Sitzblockade“ vor Kasernen und Atomkraftwerken gewandelt.
Weniger das Wörterbuch als die verschiedenen Sprachstile damaliger „Revoluzzer“ interessieren den Züricher Linguisten Joachim Scharloth, der ein Spektrum vom bohrend-fragenden „skeptischen Verweigerungsstil“ („Was meinst Du mit Demokratie?“) etwa eines Rudi Dutschke bis zum „hedonistischen Selbstverwirklichungsstil“ („Was macht das mit Dir?“) des lockeren Kommunarden-Lebens ermittelte.
Wohl auch mit ihrem „avantgardistisch-intellektuellen Stil“, der sich nur in den inneren Debattenzirkeln junger Akademiker entwickeln konnte und sich bei manchem Soziologen oder Philosophen bis heute gehalten hat, stellten sich die ansonsten auch gegenüber der Sprache so kritischen 68er selbst ein Bein: Bei den „Massen“, die sie mit ihren politischen Zielen erreichen und „befreien“ wollten, konnten sich die Aktivisten und ihr Jargon nie durchsetzen.
So kam es als Folge des Aufruhrs vor 40 Jahren – wie im politischen Leben der Republik – nicht zur Revolution, sondern zur Reform: 1968 hat nach Linguistenmeinung in der offiziellen Sprache des Landes, etwa bei Politiker-Ansprachen und Parlamentsdebatten, zu deutlich mehr Lockerheit, zu einer wirklichen „Verumgangssprachlichung“ geführt.