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Sprachmächtige Christa Wolf

Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud

© Die Berliner Literaturkritik, 12.11.10

Von PETER SCHULZ

Wie sind wir so geworden, wie wir sind? Das ist eine Frage, die Christa Wolf immer beschäftigt hat. Denn „das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen“, wie der erste Satz ihres 1976 im Aufbau-Verlag erschienenen Romans „Kindheitsmuster“ lautet. In jenem Buch ist Nelly Jordan das Kind, das im Nationalsozialismus aufwächst, Krieg und Vertreibung erlebt und viele Jahre später als erwachsene Frau über sich und ihre Zeit reflektiert und sich fragt, wer sie einmal war und welche Folgen, welche Wirkung diese Zeit auf das spätere Leben hat.

Auch in ihrem neuen Buch „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“, das schon mit dem Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck und dem Uwe-Johnson-Preis ausgezeichnet wurde, stellt Christa Wolf oder vielmehr die Erzählerin gewissermaßen diese Frage und konfrontiert sich in den Jahren 1992/93 nicht nur mit ihrer eigenen Vergangenheit, ihrer nicht aussagekräftigen IM-Tätigkeit von 1959-1963, sondern auch mit den historischen Ereignissen ihrer Zeit, jüngst den Fall der Mauer und damit den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik, in der sie gelebt hat.

Vorrangig jedoch handelt der autobiographische Roman von den Monaten in Los Angeles, die die Erzählerin auf Einladung des Getty Center dort Anfang der 1990er Jahre verbringt, um über L., deren Briefe die verstorbene Freundin Emma ihr hinterlässt, zu schreiben. Doch schon am Anfang des Buches - als sie gerade in L.A. landet - geht es nicht nur um die nun bevorstehenden Monate als Stipendiatin, sondern auch um die eigene Identität, die Vergangenheit und das eigene Erinnern der Erzählerin. Widerspenstig entgegnet sie dem Beamten auf die Frage nach ihrer Herkunft „Ostdeutschland“ und bestätigt ihm das sogar noch, als er sie wiederum fragt, ob sie sich sicher sei, dass dieses Land existiert. Die korrekte Antwort wäre eine andere gewesen, und sie fragt sich, „ob es sich wirklich gelohnt hatte, mit dem noch gültigen Paß eines nicht mehr existierenden Staates in die USA zu reisen, nur um einen jungen rothaarigen Einreisebeamten zu irritieren“. Dabei scheint es ihre eigene Irritation zu sein, die sie erlebt, und nicht die Aufmüpfigkeit, die man ihr in dieser Situation zuschreiben könnte. Diese Verwirrung, das Infragestellen wird sich durch das ganze Buch ziehen.

Über weite Strecken stellt uns die Erzählerin die ersten Tage und Wochen da, erzählt von ihren Kollegen im MS. Victoria, jenem Hotel, wo sie untergebracht sind. Sie ist die älteste unter ihnen und kommt aus der gerade untergegangenen DDR und natürlich sind die Mitbewohner interessiert, die aus allen Ländern dieser Erde kommen und nur in der Zeitung über das Geschehene lesen. Dabei spiegeln sich diese und andere Ereignisse, wie in dem ganzen Buch, in ihr und sie reflektiert beispielsweise über den 4. November 1989 und gesteht, „irgendein Defekt, mit dem ich anscheinend behaftet sei, verhindere, daß ich bei sogenannten historischen Ereignissen die ihnen angemessene Stimmung empfände“, da sie nach ihrer Rede auf dem Alexanderplatz wegen eines Zusammenbruchs in die Klinik gebracht werden musste. Sie reden: über den aktuellen „deutschen Hexenkessel“ der DDR-Aufarbeitung und den brennenden Asylantenheimen und der Italiener fordert sie auf, wenigstens auf Zeit hier zu bleiben, zu emigrieren. Doch so abgeschnitten von der deutschen Wirklichkeit ist die Erzählerin nicht, sie erreichen Nachrichten aus Deutschland, auch über jenen „Hexenkessel“ und die Polemisierungen gegen die Menschen im Osten. Darüber hinaus droht die Arbeit an L. vernachlässigt zu werden, da sie die sämtliche Zeit ihres Aufenthaltes Notizen macht über ihr Leben in der DDR und die politische Lage nach der Widervereinigung. Und die Frage nach „gehen oder bleiben“ musste sie in einem anderen Zusammenhang schon einmal in ihrem Leben klären - und tippt in die Schreibmaschine: „Was wäre denn das richtige Leben im richtigen gewesen. Wenn es uns bei Kriegsende geglückt wäre, mit unserem Flüchtlingstreck noch über die Elbe zu kommen, der wir doch mit der letzten Kraft der Zugpferde zustrebten? Wäre ich unter den anderen, den richtigen Verhältnissen ein anderer Mensch geworden? Klüger, besser, ohne Schuld? Aber warum kann ich immer noch nicht wünschen, mein Leben zu tauschen gegen jenes leichtere, bessere?“

Und dann, im Januar 1993 steht das Faxgerät des Getty Center nicht mehr still. Die deutschen Medien und ihre Hetze um die beiden Buchstaben IM erreichen sie am anderen Ende der Welt. Monate zuvor hat ihr die Mitarbeiterin der Stasi-Behörde ihre „Täterakte“ verbotenerweise für einige Minuten ausgehändigt und damals war es nur eine Frage der Zeit, dass ein Journalist laut Gesetz diese Akte anforderte. Sie dagegen beginnt ihre eigene Reflexion: „Wie hatte ich das vergessen können?“ In einer schmerzvollen Weise versucht die Erzählerin nun, sich selbst zu analysieren und aus ihrem Leben entsteht ein Gewebe aus Träumen und Alltag, aber auch Erfahrungen und Erinnerungen, die sie im Nationalsozialismus machte, die Flucht in das mecklenburgische Dorf nach dem Krieg und das Leben in der DDR mit all seinen historischen Ereignissen: dem Arbeiteraufstand 1953, dem 11. Plenum 1965, der Biermann-Ausbürgerung 1976 und der Zeit des Mauerfalls.

Wer glaubt, „Stadt der Engel“ sei ein Buch über die DDR, der hat sich getäuscht. Vor allem handelt das Buch von dem Aufenthalt in Los Angeles und dem Umgang mit den Mit-Stipendiaten, mit denen die Erzählerin Ausstellungen und Museen besucht, Überlebende des Holocaust und deren Kinder trifft, homeless people beobachtet und über die deutschen Emigranten, die während des Nationalsozialismus in die USA flüchteten, sinniert.

Doch bei all der Hetze von außen und der Analyse von innen braucht auch die Erzählerin einen gewissen Schutz, den des Overcoat of Dr. Freud, dem Mantel Freuds. Die Geschichte dieses Mantels erzählt ihr ein Freund, der wusste: „In diesem Mantel würde er jeder Lebenssituationen gewachsen sein, und wir verstanden, daß er durchaus in Situationen geraten konnte, die eine solche warme Schutzhülle dringend erforderten.“

Trotz Schutzhülle ist die Identitätssuche beschwerlich und schmerzlich, die zwischen verschiedenen Zeitebenen changiert, zwischen dem Ich, das berichtet und dem Du, das sich die Vergangenheit hervorholt und reflektiert. Am Ende jedoch bekennt sie, wehmütig, aber auch illusionslos: „Da wurde mir bewusst, erinnere ich mich, dass ich gerne in meiner Zeit lebte und mir keine andere Zeit für mein Leben wünschen konnte. Trotz allem? Trotz allem. Eine gewisse Neugier verspüre ich, ob es dabei bleiben werde. Vielleicht sind die Explosionen in den Magistralen des Kapitals Zeichen von Endzeit, jedenfalls für unsere abendländische Kultur, aber ich genieße die Annehmlichkeiten dieser Kultur, wie fast alle es tun.“

Zum Ende hin erscheint dann doch der schwarze Engel Angelina, der sie in den letzten Wochen ihres Aufenthaltes begleitet und ihr hilft, sich wieder zurechtzufinden und gewissermaßen wieder auf das Leben in Deutschland vorbereitet.

Das Fragen nach dem: Wie wir geworden sind, wie wir sind, wird nicht aufhören, wird nie abgeschlossen werden. Aus diesem nicht endgültigen Ziel der Selbstbefragung hat Christa Wolf mit ihrem sprachmächtigen Buch das Muster eines Lebens gewebt, das lange nachwirkt. Egal, was fiktiv oder nicht fiktiv ist, gerade die eigene Ratlosigkeit, das Eingestehen von Irrtümern und die Zweifel machen dieses Buch zu einem großen, lebensbejahenden Werk. „Mein Leben in drei Staats- und Gesellschaftsformen in Deutschland“, sagt Christa Wolf „treibt mir eine Fülle von Stoff zu, von dem ich etwas aufbewahren möchte. Es ist, wie so oft bei mir, ein Anschreiben gegen das Vergessen.“ Das Anschreiben gegen das Vergessen ist ihr gelungen: Der Leser kann ihr dankbar sein. Ohne Christa Wolfs Literatur ist das Leben wertlos.

CHRISTA WOLF: Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 416 S., 24,80 €.


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