FRANKFURT (BLK) – Der Roman „Winnetou August“ von Theodor Buhl ist im August 2010 im Eichborn Verlag erschienen.
Klappentext: Winnetou August ist die Geschichte einer Familie in Schlesien, die in den Wirren des letzten Kriegsjahres und der Monate danach um ihre Existenz kämpft. Und es ist die Geschichte des achtjährigen Rudi, der Schreckliches sieht und die Ereignisse zugleich als Abenteuer erlebt: das Näherrücken der Roten Armee, der Verlust des Elternhauses, die Flucht kreuz und quer durch Schlesien. Die Welt des Krieges ist für ihn eine geheimnisvolle Welt der Erwachsenen, in deren Mittelpunkt August steht, der Vater, eine beinahe mythologische Figur. Theodor Buhl formt aus Erinnerungen eine fast gespenstisch präzise literarische Vergegenwärtigung von Kriegsterror, die zugleich vorführt, wie Erinnerungen entstehen und eine Seele geformt wird. So nimmt der Roman einer Kindheit Gestalt an, der - frei von Nostalgie oder Heimeligkeit - in seiner idiomatischen Genauigkeit gleichsam zum Bild und Zeugnis einer Zeit wird.
Theodor Buhl wurde 1936 in Bunzlau/Niederschlesien geboren. Er studierte an der Kunstakamdemie Düsseldorf sowie an der Universität Köln. Während seines gesamten Berufslebens als Lehrer war er auch schriftstellerisch tätig. Daraus erwuchsen Kontakte zu Heinrich Böll und Peter Rühmkorf. Die erste Fassung von „Winnetou August“ entstand Ende der achtziger Jahre, seitdem hat er immer weitern an diesem Text gearbeitet. Theodor Buhl lebt heute mit seiner Frau in Düsseldorf.
Leseprobe:
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„Junge, du wirst Ingenieur!“ – August steht vor der Frisierkommode, nimmt sich einen aus der Kölnisch-Wasser-Flasche, drückt den Ekel weg – „Wie der Rudolf Diesel, Junge.“ Wenn August in den Simmelwochen ist und zufällig kein Alkohol im Hause, trinkt er Elfriedes 4711.
„Bedeutender Erfinder, Rudi – Phänomen!“ Hinten im Spiegel kann er mich klein am Türrahmen sehen.
August hatte zwei verschiedene Augen, ein wäßrig blaues und ein grünes, und auch zwei ganz verschiedene Arme. Den rechten, der wie andre Arme war, und links die Knoche – ein Stock von Arm mit einem unförmigen Ellbogengelenk und einer eingekrümmten, blassen Hand, die sich nicht öffnen ließ und die nur gut war, um auf dem Papier zu liegen, wenn er schrieb, oder irgend etwas sonst ihm nicht verrutschen sollte. Man hat die Knochenhand nicht gern berühren wollen. Sie war kalt und glasig, nahm nicht richtig teil am Leben, war bloß das Endstück dieses steifen Arms.
„Junge, mach mir mal die Schuhe zu! – ich kann’s nicht mit der Knoche.“
Die Finger seiner Rechten waren braun vom Rauchen, die zog er hin und wieder gründlich auf dem Bimsstein ab. Den Bimsstein klemmte er sich in die Knoche und hobelte drüber – „Friedel, du mußt mir die Nägel verschneiden!“ Bier trank er regelmäßig – Schnaps, wenn die Sucht ihn packte. Gegen seine Fahne nahm er starke Zahnputzpulver, versuchte das zu tarnen. Aber an den Augen sah man es, die leuchteten dann stärker, ein greller Tierblick manchmal – und um den Mund ein fremdes Lächeln, als ob ihn etwas halb wegs amüsierte, während er mit den Gedanken längst woanders war. Wenn er tiefer einsank in den Suff, hat er sich an seine zweiarmige Zeit erinnert und an den Tag im Bergelsaal in Brieg, als er vor Hunderten von Leuten – Kaisers Geburtstag! Bergel saal! Musik! – sein Regiment vertreten hatte. Von der Decke hing ein Seil herunter, wie in einer Zirkuskuppel – und plötzlich Tusch! und Stille: „Gefreiter Rachfahl!“ – „Hier!“ – Pomade in den Haaren, Turnerdress – und unter Trommelwirbel hin zum Seil, quer über das Parkett – und zack zack zack zack …
August!
Kaisers Geburtstag am Seil
nur mit den Armen, bis in die Kuppel
Ja – ich! – ja – ich!
Ja – ich! – ja – ich!
Ja – ich! – ja – – – Ich!!
Beine waagerecht ausgestreckt
Beifall!!
Heil Dir im Siegerkranz!
„Da müßt ihr Murre haben, Jungs!“ sagt August, zeigt auf seine Schultern. Auch die Knoche will beim Zeigen mit nach oben, aber kommt nicht hoch. Wenn er nachts mit uns bei klarem Himmel auf den Hof ging und ins Weltall blickte, geriet er in Begeisterung. Ich hab ihm gerne zugehört – selbst wenn Willy Faxen machte neben mir im Dunkeln, der hatte für die Sterne nicht viel übrig. Mit den Sternen kennt sich August aus, die hat er damals in Breslau gelernt, als junger Mensch in Kursen an der Volkshochschule.
„Sternwarte Breslau: seht ihr sie alle.“ Und schließlich fiel er regelrecht in Vortragsstil, wenn er das zahllose Geflimmer gliederte: die Milchstraße zuerst und dann die beiden, die wir selber konnten, den Großen und den Kleinen Wagen – und gleich danach Orion. Dort saß sein Lieblingsstern, der Beteigeuze, kurz und scharf gesprochen wurde der. Schwan und Leier, Schütze, Wassermann – da ist man mei stens nicht ganz mitgekommen – das verlor sich im Geflacker über Lublinitz. Die Kassjopeija ließ er nie aus – „das große Himmels-W“, sagt August. „Gekeupel ham wir früher drauf gesagt“, hieß es ab und zu bei den Plejaden. Gekeupel, schlesisch: schlaffes Glied – was so gestaltlos ineinandergeht.
Vom Halleyschen Kometen hat er mir erzählt, als ich die Mittelohrentzündung hatte. „Halleischen“ sprach er ihn, im Englischen war er nicht firm. Den hatte er schon 1910 gesehen, mit siebzehn Jahren schon – der käme alle sechsundsiebzig Jahre bloß vorbei. „Da werd ich längst verfault sein, Junge, dann denk mal an mich.“ Als er 86 aus dem Weltall kam, ist mir August wieder eingefallen – Halley als ferner Reflektor unsrer Gedanken. Auf die Beschlagenheit in Sachen Sterne ist August immer stolz gewesen. Beschlagen – das war die zweite Stufe geistiger Entwicklung. Die erste nannte August firm – firm hieß so viel wie „gute Grundkenntnisse haben“. Wenn man dazu auch noch beschlagen war, konnte man sein Wissen derart glän zend von sich geben, daß die andern alle nur als Pfeifen in der Gegend standen. Wer der nächsten Stufe angehörte, war für August Phänomen; da hatte man’s oder man hatte es nicht, mit Anstrengungen war das nicht zu holen – unmöglich, ausgeschlossen!! Schliemann, Liebig, Röntgen, Koch – und dieser Diesel, Rudolf Diesel! – die waren alle Phänomene, hart vor der letzten Stufe, dem Genie. Dort wurde es dann restlos unbegreiflich: maßloses Schaffen bis in die Nacht – „rauschhaft“, sagt August, „der innere Drang!“ Beethoven beispielsweise: eindeutig klarer Fall – und Goethe, den August in Wein rot hatte, im mittleren Teil seines Schrankes im Herrenzimmer, hinter der Glastür. Über Goethe war ein Brett voll Grillparzer geladen, den August ohne zweites R gesprochen hat, wenn er die Geistesgrößen zählte, zum Ein prägen für uns: Grillpazzer, dunkel blau gebunden und mit Goldschrift auf den Rücken. „Einbruderzwistimhausehabsburg“, sagt August schnell – ein Wort.
Van Gogh stand auf derselben Stufe – in der Rubrik Verkannte. Auch Elfriede wußte, daß der wahnsinnig geworden war – und die Sache mit dem Ohr natürlich. „Mit dem Rasiermesser glatt weg!“ sagt August. „Verkanntes Genie, genauso wie Rembrandt – Mann mit’m Goldhelm – tragisch!“
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Literaturangabe:
BUHL, THEODOR: Winnetou August. Eichborn Verlag, Frankfurt a. Main 2010. 320 S., 19,95 €.
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