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Steinaeckers Roman „Geister“

Realitätsflucht in den Comic

© Die Berliner Literaturkritik, 01.09.09

Geister begleiten den Protagonisten Jürgen ein Leben lang. Zu Beginn von Thomas von Steinaeckers Roman „Geister“ ist es die sechsjährige Ulrike, in deren Schatten Jürgen sein Dasein fristen muss. Denn eines Tages verschwindet die Schwester, weder ein Lebenszeichen noch ihre Leiche werden gefunden, obwohl die Eltern ihr ganzes Leben der Suche nach ihrer Tochter beziehungsweise ihrem vermeintlichen Mörder widmen. Die Fotos der Vermissten finden sich überall im Elternhaus verteilt, sodass Jürgen, der seine Schwester nie kennenlernte, nur in Bezug auf sie leben kann: Vor den Eltern und der Kamera spielt er den vermissenden Bruder, er selbst wünscht sich einmal unabhängig von seiner Familiengeschichte wahrgenommen zu werden.

Durch Jürgens von Alp- und Tagträumen geprägte Jugend spukt der Geist der Schwester, aber auch Schemen seiner selbst. Er erdenkt sich zahlreiche Alternativleben, alle besser als die Realität, jedoch unerreichbar. Ähnlich halbanwesend verbringt er sein alltägliches, wenig aufregendes Leben. Die Welt erscheint durch seine geistige Abwesenheit als Ödnis, gefüllt mit gespenstischen Personen. Wahrhaft leben nur die anderen. Bis er eines Tages das Interesse der Comic-Zeichnerin Cornelia weckt. Die lässt nicht nur Ulrike wieder auferstehen. Auch Jürgen erhält von der Künstlerin ein gezeichnetes Alter-Ego und somit den anderen Lebenslauf, den er sich immer gewünscht hat. Die Realität scheint ihn immer mehr zu verlieren.

„Geister“ ist ein schönes, subtiles Buch über das Leben in einer Zeit, in der ein virtuelles Alter-Ego fast zum guten Ton gehört. Es zeigt eine Geschichte, in der das Potenzial und die Gefahr von Traumwelten jeglicher Couleur recht nah beieinander liegen. Das Leben erscheint hier wie in einer Romanszene, in der Jürgen ein Lied zehn Mal hintereinander hört. Als er später die Lyrics nachliest, muss er feststellen, dass er immer einen falschen Text mitgesungen hat, „der aber eigentlich für ihn gerade den ganzen Reiz des Lieds ausgemacht hat“.

In der Verknüpfung der realen und der virtuellen Ebene liegt die hauptsächliche Leistung des Romans. Cornelias Comics, clever und in oftmals überraschenden Bildern von Daniela Kohl gezeichnet, machen Teile des Romans zu einer Graphic Novel. So schafft es von Steinäcker, dem Leser den Sog, der für Jürgen von jener Fantasiewelt ausgeht, direkt vor Augen zu führen.

Von Wiebke Volkmann

Literaturangaben:

VON STEINAECKER, THOMAS: Geister. Mit Comics von Daniela Kohl. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2008. 204 S., 19,80 €.

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