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Stéphane Hessel erkennt Unruhe

Historiker Goschler glaubt nicht an „die Geschichte“

© Die Berliner Literaturkritik, 07.02.11

Von Christoph Driessen

BOCHUM (BLK) - Der französische Diplomat und Schriftsteller Stéphane Hessel sieht viele Gesellschaften in Aufruhr. Die Welle der Unruhe kommt für ihn „in einem richtigen Moment der Geschichte“. Der Historiker Constantin Goschler, als Professor für Zeitgeschichte in Bochum Nachfolger von Hans Mommsen und Norbert Frei, hält das für eine Illusion, wie er im dpa-Interview sagt:

Stuttgart 21 und Revolution in Ägypten - könnte das nicht doch etwas miteinander zu tun haben? Ist dies der historisch richtige Moment für Rebellion?

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Goschler: „Einer solchen Denkweise liegt eine ganz bestimmte Geschichtsauffassung zugrunde. Das läuft letztlich auf eine innerweltliche Heilsgeschichte hinaus. Da ist dann eine bestimmte Kraft am Werk - der Weltgeist zum Beispiel oder die göttliche Vorsehung. Vom 'Mantel der Geschichte', den es zu ergreifen gelte, hat noch Helmut Kohl gesprochen. Das ist eine ganz alte Metapher. Wenn man so denkt, kann man sich natürlich hinstellen und sagen: ‚Wir kämpfen nicht nur gegen den Stuttgarter Durchgangsbahnhof, wir sind Teil einer weltumspannenden Rebellion.’“

Sie selbst glauben aber nicht daran, dass das so ist?

Goschler: „Woran ich jedenfalls nicht glaube, ist ‚die Geschichte’ im Sinne einer zielgerichteten Kraft jenseits des Menschen. Für mich ist Geschichte vielmehr der Versuch von Menschen, der Vergangenheit einen Sinn zu verleihen. Es mag so etwas geben wie das Empfinden, dass es für manche Dinge den richtigen Zeitpunkt gibt - ein ‚window of opportunity’ sozusagen.“

Aha, also muss man doch den richtigen Moment abwarten.

Goschler: „Unter Umständen ja, aber das ist dann nicht ein Moment, der von ‚der Geschichte’ irgendwie begünstigt wird. Was es hingegen gibt, ist ein Bewusstsein von Gleichzeitigkeit, das wir durch die Berichterstattung der Medien erleben. Mit anderen Worten: Wenn genug Leute daran glauben, dass Stuttgart 21 und Ägypten zusammengehören, dann kann das natürlich eine mobilisierende Wirkung entfalten.“

Sehen Historiker denn gar keinen roten Faden mehr in der Geschichte?

Goschler: „Wir sind da viel zurückhaltender geworden und sprechen oftmals eher von Geschichten als von Geschichte.“

Nach dem Fall der Berliner Mauer wurde ja vom „Ende der Geschichte“ gesprochen.

Goschler: „Ja, das war in dem Sinn gemeint, dass die Geschichte nun in der bürgerlichen Weltgesellschaft unter Führung der USA ihren Endpunkt erreicht haben sollte. Heute spricht davon niemand mehr, im Gegenteil, überall liest man nur noch vom Abstieg Amerikas und von der Bedrohung durch den Terror.“

Schade. Es ist ja doch viel schöner, wenn man die Weltgeschichte einleuchtend erklärt bekommt.

Goschler: „Damit stehen Sie nicht allein. Ich beobachte im Moment auch eine solche Suche nach vereinheitlichenden Perspektiven. Deshalb interessieren sich Historiker seit einiger Zeit auch immer stärker für Globalgeschichte. Vielleicht wird die nächste Weltgeschichte von einem Chinesen geschrieben. Von dort aus betrachtet macht ‚die Geschichte’ zurzeit vielleicht noch am ehesten Sinn. Da läuft dann alles auf China zu.“


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