Von Gisela Ostwald
Der Stoff von Stewart O’Nans jüngstem Roman ist als Zeitungslektüre hinlänglich bekannt: Ein junges Mädchen verschwindet ohne jede Vorwarnung, ihre Spur verläuft sich im Sand, die Ermittlungen bleiben ergebnislos. In „Alle, alle lieben Dich“ ist die 18-jährige Kim Larsen eines Nachmittags wie vom Erdboden verschluckt. Hat sie aus Abenteuerlust das Weite gesucht oder wurde sie entführt? Ist sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen oder genießt sie die Freiheit fern von Kingsville, einer schläfrigen Kleinstadt im US-Bundesstaat Ohio? Die Antwort bleibt der Autor seinen Lesern bis zuletzt schuldig. Um ihm nicht vorzugreifen, wird auch hier nichts verraten.
O’Nan (48) widersteht der Versuchung, sich detektivisch auf die Suche nach der Vermissten zu machen und aus den Erkenntnissen einen der üblichen Krimis zu konstruieren. Stattdessen wendet sich der populäre US-Schriftsteller schon nach dem ersten Kapitel ganz jenen zu, deren Leben durch Kims Verschwinden aus den Angeln gehoben ist.
Das Ergebnis ist nicht weniger spannend. In seinem zwölften Roman geht es um den Verlust einer Tochter, der älteren Schwester, der besten Freundin, und um das Ringen nach einer Antwort auf ihr rätselhaftes Verschwinden.
„Alle, alle lieben Dich“ ist das beklemmende Protokoll eines ungelösten Falls, eine Charakterstudie, ein Psycho-Thriller. Das Buch lässt fühlen, wie tief die Trauer um einen Menschen sein kann und wie begrenzt das Vermögen, ohne ihn neu anzufangen. Kims Vater, der Immobilienmakler Ed Larsen, entwickelt jenen Aktivismus, den er bei der Polizei vermisst. Er durchkämmt die Umgebung des Städtchens mit Kims Freunden und jagt jedem Hinweis hinterher, nur um seiner Verzweiflung Herr zu werden.
Die Mutter, eine Krankenschwester, reagiert anfangs kühler. Fran druckt Handzettel, mobilisiert die Bürger am Ort mit Luftballons und T-Shirts und lernt, sich bei ihren Aufrufen im Fernsehen ins rechte Licht zu setzen. Am Ende aber zerbricht sie ebenso an dem Hin und Her zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, zwischen ihrer Liebe und der Qual.
Die jüngere Tochter Lindsay entzieht sich der Umwelt hinter Büchern und ihrer Musik. Sie sehnt sich nach der Schwester, kann dieser aber das Chaos in ihrem Leben nicht verzeihen. Kims Boyfriend und ihre einst beste Freundin lassen Kingsville hinter sich: Doch selbst am College schütteln sie die Erinnerungen an die einst so Vertraute nicht ab, die sie nur zu kennen glaubten, aber nicht wirklich kannten.
O’Nan zeichnet die Wandlung der Betroffenen mit feinem Gespür. Seine Geschichte geht unter die Haut, weil sie mitempfinden lässt, wie sich der Alltag einer ganz normalen Familie, die Welt einer Clique unauffälliger junger Menschen von einer Minute zur anderen verändert. Dem ehemaligen Flugzeugingenieur O’Nan wird nachgesagt, mit jedem Buch fremdes Terrain zu erobern, sich immer wieder neu zu erfinden. Wer sich an seiner holprigen Sprache nicht stört, dürfte sich für das ebenso einfühlsame wie spannende Buch begeistern.
Literaturangaben:
O’NAN, STEWART: Alle, alle lieben Dich. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Thomas Gunkel. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg. 416 Seiten, 19,90 €.
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