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„Stille Wut“

Der neue Roman des argentinischen Autors Sergio Bizzio

© Die Berliner Literaturkritik, 15.11.10

MÜNCHEN (BLK) – Der Roman „Stille Wut“ von Sergio Bizzio ist im September 2010 im DVA Verlag erschienen. Sabine Giersberg hat ihn aus dem Spanischen übersetzt.

Klappentext: Der Bauarbeiter José María lernt eines Tages an der Supermarktkasse das Hausmädchen Rosa kennen und verliebt sich in sie. Als er verdächtigt wird, seinen Vorarbeiter auf der Baustelle erschlagen zu haben, flüchtet er sich unbemerkt in die Villa der Dienstherrn seiner Geliebten. Er richtet sich in einem unbewohnten Flügel des Hauses ein, bleibt Wochen, Monate, dann Jahre und beobachtet Tag für Tag voller Obsession das Leben der Bewohner. Und er muss mit ansehen, wie Rosa Schlimmes angetan wird …

Sergio Bizzio wurde 1956 im argentinischen Villa Ramallo geboren. Zuerst arbeitete er als Drehbuchautor und Filmregisseur und Ende der achtziger Jahre auch als Schriftsteller. Sein mehrfach ausgezeichneter Roman „Stille Wut“ erschien 2004 und machte den Autor international bekannt. Der Roman wurde vom ecuadorianischen Regisseur Sebastián Cordero verfilmt (Produzent ist Oscargewinner Guillermo del Toro) und beim Internationalen Filmfestival in Tokyo mit dem Jurypreis ausgezeichnet. Sergio Bizzio lebt in Buenos Aires.

Leseprobe:

 ©DVA Verlag©

Sie hatten sich im Supermarkt an der Kasse kennengelernt. Rosa war Hausmädchen in der Villa der Blinders, und José María arbeitete auf einer Baustelle, einem Gebäudegerippe, zwei Querstraßen von der Villa entfernt. Von dort war er gekommen, um Fleisch und Brot für das Mittagessen zu kaufen, und dummerweise hatte er sich genau hinter Rosa an der Kasse angestellt, die einen Großeinkauf getätigt hatte: Ihr Wagen quoll über. Nach José Marías Schätzungen würde sie mindestens eine halbe Stunde an der Kasse brauchen. Er sah zu den Nachbarkassen, aber dort waren die Schlangen viel zu lang, und er stieß ein verdrossenes Zischen aus. Rosa hörte es; sie warf einen Blick in den roten Korb, den José María in der Hand hielt (eine Tüte mit Brot und eine mit Grillfleisch) und sagte:

„Möchten Sie vorgehen?“

Das Angebot brachte José María völlig aus dem Konzept. Er hob die Augenbrauen und machte eine knappe Bewegung mit dem Kopf, die sowohl ja als auch nein bedeuten konnte.

„Nein, schon in Ordnung.“

Er war Freundlichkeit nicht gewöhnt. Während Rosa anfing, die Sachen auf das Band zu legen, wurde ihm klar, dass das Angebot eine Reaktion auf sein ungeduldiges Zischen gewesen war.

„Ich wollte nicht . . . „, sagte er.

Rosa drehte sich um und sah ihn an. Ernst, ohne ein Wort zu sagen.

„Also, ich wollte nicht . . . „, wiederholte José María. Manchmal fiel es ihm schwer, sich verständlich auszudrücken. Rosa beugte sich wieder über den Wagen und lud weiter Sachen aus.

„Trotzdem danke“, sagte er noch.

„Keine Ursache.“

Die Kassiererin lächelte, sah auf die Milchtüte in ihrer Hand und dachte, während sie den Strichcode eintippte, zwischen den beiden bahnt sich was an. Und sie lag richtig.  Als Rosa fertig war und den Supermarkt verließ (es wurde alles angeliefert), ging sie nicht gleich nach Hause. Sie überquerte die Straße und tat so, als betrachtete sie eine Schaufensterauslage, um im Blickfeld von José María zu bleiben. José María verließ den Laden eine Minute später, die Einkaufstüte baumelte am Finger. Er überquerte die Straße und kam direkt auf sie zu.

 „Störe ich?“, fragte er.

Rosa hatte ihn im Spiegel des Fensterglases kommen sehen, tat aber, als wäre sie überrascht. Sie stieß sogar ein „Oh!“ aus und legte die Hand aufs Herz. „Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt!“

„’tschuldigung.“

„Halb so wild . . . „

„Wohnst du hier?“

„Da drüben“, sagte Rosa und zeigte auf die Villa an der Ecke.

„Nette Hütte“, bemerkte José María. „Ich arbeite in der Nähe . . . „

„Ach ja?“

„Ja. Ich kaufe immer hier ein.“

„Und was machst du?“

„Bau.“

„Aha, schön.“

„Ja, jetzt brummt es.“

„Was?“

„Das Baugewerbe. Letztes Jahr war tote Hose. Jetzt geht wieder was. Und du?“

„Ich? Hausmädchen. Da hat man seine Ruhe.“

José María lächelte, als wäre ihm plötzlich etwas eingefallen, und streckte ihr die Hand hin.

„José María“, sagte er.

„Rosa“, erwiderte sie und gab ihm die Hand.

„Angenehm.“

„Ganz meinerseits.“

„Rosa also.“

„Ja.“

„Kaufst du auch immer hier ein?“

„Gibt ja nichts anderes.“

„Aber Auswahl haben sie. Sogar CDs. Neulich war die von Shakira im Angebot. Magst du Shakira?“

„Ja, schon. Ihre Stimme . . . „

„Und was hörst du sonst so?“

„Na ja . . . Cristian Castro . . . Iglesias . . .

„Vater oder Sohn?“

„Sohn, immer schon. Die Señora hört den Vater, wenn sie allein ist. Nicht wenn Leute da sind, dann legt sie immer so klassische Musik auf, die . . . „ Sie lachte. „Alle sagen immer: ›Mach das doch aus, Rita‹, aber sie kümmert sich nicht darum . . . Keine Ahnung, warum sie es auflegt, wenn es ihr nicht mal selbst gefällt!“

„Sie legt Musik auf, die ihr nicht gefällt? Leute gibt es . . . Enrique Iglesias also. Er heißt doch Enrique, oder?“

„Enrique, ja. Aber Cristian Castro liegt mir mehr . . . „

„Und Cumbia?“

„Früher. Jetzt hab ich es satt.“

„Ich auch. Dabei bin ich mit Cumbia-Musik aufgewachsen. Meine Mutter hat gesagt, als ich noch in ihrem Bauch war, hat sie immer das Radio draufgelegt, direkt auf den Nabel, stell dir mal vor. Aber stimmt schon, auf die Dauer wird man es leid.“

„Ich weiß nicht. Ich kenne Leute, die stehen drauf und werden immer drauf stehen. Aber mir hat Cumbia eigentlich nie wirklich gefallen.“

„Eben hast du doch gesagt, dass du sie früher gemocht hast!“

„Nein, ehrlich gesagt . . . Ich wollte dir nur nicht auf den Schlips treten, ich dachte, du . . . „

„Ja, erwischt, ich bin ein echter Cumbia-Fan.“

„Nicht zu fassen, oder? Wir kennen uns kaum, und schon machen wir uns gegenseitig was vor.“

„Na ja“, sagte José María. „Man redet halt über was, tastet sich vor, und aus Höflichkeit . . . „

„Rücksicht. Das ist gut so.“

„Bestens.“

„So muss es sein. Rücksicht ist für mich . . . Also, wenn einem jemand die Wahrheit knallhart ins Gesicht sagt . . . „

„Dabei hast du so ein ehrliches Gesicht.“

„Danke.“

„Nein, nein, im Ernst! Ich habe dich angesehen und sofort gewusst, dass du ehrlich bist. Wie heißt du noch mal?“

„Rosa.“

„Ein schöner Name, Rosa.“

„Danke. Na dann . . . „

„Musst du schon weg?“

Das Gespräch ging noch ein paar Minuten auf diese Art weiter. Keiner von beiden wollte gehen: Bei ihnen hatte der Blitz eingeschlagen. Nicht einen Millimeter hatten sie sich während des Gesprächs von der Stelle bewegt; mit den Hüften ausgleichend, hatten sie ihre Oberkörper einander angenähert und waren zurückgewichen, immer vom selben Punkt aus, als wären sie am Boden festgenagelt.

Der Portier vom Gebäude nebenan beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Das Mädchen hatte er schon häufiger gesehen, immer allein, doch ihn sah er zum ersten Mal, und es gefiel ihm überhaupt nicht, wie  der Kerl mit ihr sprach. Er stand im Eingang und spitzte die Ohren, um das Gespräch zu belauschen; er schnappte Bruchstücke auf, Gesprächsfetzen, wie „Und wen hast du gewählt?“ – „Aber das ist doch geheim“, und er spürte, wie eine Welle der Wut in seiner Kehle hochstieg: Es war offensichtlich, dass der Unbekannte das Hausmädchen der Blinders anmachte.

Auch wenn es eigentlich keine festen Verhaltensregeln im Viertel gab, so folgte man doch einer Art instinktivem Kodex, der über Äußerlichkeiten wie Qualität der Kleidung, Haut- und Haarfarbe, Sprechweise, Körperhaltung hinausging. Sobald ein Fremder im Viertel auftauchte, nahm man ihn fest ins Visier und vermittelte ihm so das Gefühl, dass er überwacht wurde. Es war eine wirkungsvolle, bewährte, von allen Bewohnern und einer großen Zahl von Haustieren praktizierte Form des Affronts. Und so beobachtete der Portier die beiden schon bald nicht mehr verstohlen, sondern ganz offen, ja er ging sogar einen Schritt auf sie zu, damit er besser hören konnte, worüber sie redeten.

Viel erfuhr er nicht, denn José María und Rosa waren dabei, sich zu verabschieden. Das Einzige, was er klar und deutlich hörte, war ihr gegenseitiges Versprechen, sich bald wiederzusehen. Rosa eilte im Laufschritt zur Villa, während José María ihr noch einen Moment lang nachsah, sich dann umdrehte und auf den Weg zur Baustelle machte.

Pfeifend und die Tüte mit dem Grillfleisch und dem Brot schwenkend ging er an dem Portier vorbei. Dieser, jetzt, da der andere zu entschwinden drohte, erst recht angriffslustig, machte einen Schritt nach vorn, als gäbe es am Bordsteinrand etwas zu sehen, und versperrte José María den Weg. Das geschah ebenso schnell wie wohlüberlegt: Er wollte José María zwingen, hinter ihm vorbeizugehen, dann konnte er auf dem Absatz kehrtmachen und ihm nachschauen – eine offene Provokation. Doch der Portier, ein träger Dürrer mit schmalen Schultern und vor allem ein schlechter Menschenkenner, hatte nicht damit gerechnet, dass der Unbekannte sich tatsächlich beleidigt fühlen würde.

„Was gibt’s da zu glotzen, du Idiot?“, sagte José María im Vorbeigehen und war schon an der Straßenecke, als der Portier seine Sprachlosigkeit überwunden hatte. Mein Gott, ist der fl ink, dachte er. Ich würde meinen Kopf darauf verwetten, dass der mit einem Satz auf der anderen Straßenseite ist.

 ©DVA Verlag©

Literaturangabe:

BIZZIO, SERGIO: Stille Wut. Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. DVA Verlag, München 2010. 240 S., 19,99 €.

Weblink:

DVA Verlag


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