Von Matthias Reichelt
Es gibt keinen Bereich in der menschlichen Gesellschaft, der nicht einer merkantilen Verwertung unterworfen werden könnte. Da hat sich der Kapitalismus als krisenresistenter erwiesen, als man das vor nicht allzu langer Zeit noch geahnt hatte. Nach dem Kollaps des realsozialistischen Systems entwickelte er regelrechte Höhenflüge. Eine Kraft, die diesen systemischen Tsunami in die Schranken weisen könnte, ist momentan nicht in Sicht. An eine Beseitigung ist vorerst gar nicht zu denken, eher würde es wohl zu einer Implosion mit ungeahnten Folgen kommen. Also heißt es zu überwintern und das Beste aus seinem Leben zu machen.
Das beherzigt auch Sebastian Horvath, ein linker Jungakademiker in Wien und mit allen Wassern des Marxismus und der kritischen Analytik gewaschen. Er befindet sich in einer Krise. Mit der Promotion geht es nicht voran, obwohl er mit links Dissertationen für andere verfasst. Derweilen geht seine Freundin Anna an der Universität einer Karriere als Dozentin im Fach Philosophie entgegen. Sie veröffentlicht kluge Essays zu Philosophie und Gender, die in der Wissenschaftsszene diskutiert werden und behandelt mit ihren Studenten Adorno, Agamben und Foucault. Während des ersten gemeinsamen Urlaubs der Verliebten praktiziert Sebastian seine Streicheltechnik an Anna, die ihm ein außerordentliches Talent attestiert. „Du könntest reich werden Sebastian, sehr reich.“
Die Idee ist in der Welt und Anna fantasiert weiter von einem Streichelinstitut. Ein bahnbrechendes Geschäftskonzept, das besonders angesichts eines die Gesellschaft atomisierenden und die Menschen in Einsamkeit stürzenden Neoliberalismus erfolgversprechend scheint. Das vormals abgesicherte Bürgertum wird von der Auflösung fester Arbeitsverhältnisse wie von einer Naturgewalt erfasst und in die ökonomische Unsicherheit gerissen. Keine Zeit mehr, denn Zeit ist Geld; kein unnötiges und zeitraubendes Engagement mehr, ohne zu wissen, ob sich das auch auszahlen könnte. Die bedürftige Klientel wird von Sebastian als desillusionierte Mittelschicht und als „Lumpenbourgeoisie“ definiert.
Clemens Berger heißt der 1979 in Österreich geborene Autor, der sich dieses Szenario für seinen glänzend geschriebenen Roman erdachte. Man könnte den Roman frei nach Flaubert als eine desaströse Éducation sentimentale bezeichnen. Der Protagonist durchläuft einen Prozess der Ver- und Entwirrung der Gefühle, der ihn und seine Psyche nicht ganz schmerzfrei für die gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwart kompatibel machen. Berger liefert ein wunderbares Beispiel für die Verwertungswut, die aus jedem Spleen ein Business macht. Das schildert er mit ironischem Blick auf den Zeitgeist und die Opportunismen, die ehemals radikale Linke zu systemstabilisierenden Akteuren gerieren lässt.
Sebastian Horvath begreift sein Talent als Chance der Stunde und schreitet zur Geschäftsgründung. Er mietet Räume in der Mondscheingasse an. Der Straßenname als Verheißung eines Innehaltens und als Exil für Kontemplation inmitten gesellschaftlicher Turbulenzen. Er lässt sich eine Webpage bauen, Visitenkarten entwerfen und versucht dabei alle möglichen Zweideutigkeiten gar nicht erst aufkommen zu lassen. „Kein Sex, nur Streicheln über der Gürtellinie.“ Das Projekt ist wissenschaftlich fundiert und mit dem Verweis auf Experimente mit Ratten über die Zusammenhänge von Berührung und Glücksempfinden entsprechend abgefedert. Sebastian verpasst sich einen sanfteren Vornamen, der ihm im Alltag auch die Trennung zwischen Beruf und Privatleben erleichtern soll.
Severin, so nennt er sein neues geschäftliches ICH als Betreiber des Caress_Caress Streichelinstituts. Severin kommt bei Männern wie Frauen gut an. Sie verlassen das Institut in bester Stimmung, die allerdings nicht lange anhält und eine Fortsetzung der Therapie verlangt. Man witzelt über die Vorstellung des sexlosen Streichelns und Irene Fischer, eine Kundin und spätere Teilhaberin für die Geschäftsexpansion, stellt Severin eine besondere Honorierung für eine Yoni-Massage in Aussicht. Entsprechend des ganzheitlichen Ansatzes im Tantra soll auch die Yoni (Vagina) mit einbezogen werden. Ein Angebot, das Severin kaum ablehnen kann, denn die Kundin ist attraktiv und der Businessplan erfordert vollen Einsatz und Flexibilität. Klar, dass sich sein Lingram (Penis) unprofessionell gibt und eine Zurückhaltung vermissen lässt. Irene Fischer erweist sich als empathische Kundin mit einem guten Sinn fürs Geschäft und legt selbst Hand beim Dienstleister an. Aufgrund ihrer Empfehlung erhält das Institut Zulauf und gerät in den Fokus der Medien. Severin wird als Begründer des Streichelinstituts in den Talkshows rumgereicht und zum Stadtgespräch.
Es geht in Bergers Roman aber nicht um schlüpfrigen Sex, sondern um die Verwirrung von Gefühlen angesichts einer inflationären Lebenshilfepraxis in einer Gesellschaft, die alle Beziehungen ökonomisiert. Die Trennung zwischen Privatsphäre und Arbeit, zwischen den Geschlechtern, alles gerät ins Wanken und Sebastian bzw. Severin weiß nicht mehr, wo ihm der Kopf steht und wem sein Herz gehört. Sein Privatleben geht vor die Hunde.
Clemens Berger zeigt mit Ironie die Brüchigkeit von Identität, die Gratwanderung zwischen Widerstand mit Leben und Überleben ohne Leben im Neoliberalismus. Dabei gelingen ihm hinreißende Passagen über die Gesellschaft und deren Zeitgeist. Berger lässt dabei kaum ein aktuelles Thema aus: Cyber-Sex und -liebe, der Krieg in Afghanistan und im Irak, die Belanglosigkeit der Medien und ihr Vermögen, alle Themen in ihre Fänge zu ziehen und entsprechend weichzuspülen. Folglich kommt ein Medienvertreter auf die Idee, die ausgelutschten Kochshows durch Streichelshows zu ersetzen. Alles ist so wahr und existent wie die Wirklichkeit in den RTL-Homestories. Dafür hat Clemens Berger gesorgt und dem Institut schon mal einen richtigen Webauftritt mit Möglichkeit der Kontaktaufnahme verpasst: (www. streichelinstitut.com / severin@streichelinstitut.com).
Literaturangabe:
BERGER, CLEMENS: Das Streichelinstitut. Wallstein Verlag, Göttingen 2010. 356 S., 19,90 €.
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