Von Jörn Perske
HANAU/KASSEL (BLK) - Eigentlich sind sie unsterblich. Fast auf der ganzen Welt haben die populären Philologen mit ihren Märchen Spuren hinterlassen. In mehr als 160 Sprachen und Kulturdialekte wurden die Werke der Brüder Grimm übersetzt. Die „Kinder- und Hausmärchen“ gelten neben der Luther-Bibel als das bekannteste Buch der deutschen Kulturgeschichte. Zwar sind die in Hanau geborenen Brüder den meisten Deutschen vor allem durch die Geschichten von Rotkäppchen, Schneewittchen sowie Hänsel und Gretel bekannt. Doch auch für die Wissenschaft haben sich Jacob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859) Grimm als Sprach- und Literaturforscher verdient gemacht, etwa mit ihrem „Deutschen Wörterbuch“ und der „Deutschen Grammatik“. Wilhelm Grimms Todestag jährt sich am 16. Dezember zum 150. Mal.
Das Erbe der in Berlin gestorbenen Brüder ist ebenso reichhaltig wie kostbar. Die wertvollsten Schätze schlummern in Kassel, wo sie mehr als 30 Jahre lebten und ihre arbeitsreichste Zeit verbrachten. Im Tresor einer Kasseler Bank liegen heute sicher deponiert die Privat-Ausfertigungen ihrer Märchen mit handschriftlichen Notizen. Die fünf Handexemplare sind das weltweit bedeutendsten Vermächtnis der Märchenforschung. Ihr Wert wird auf 15 Millionen Euro taxiert. 2005 wurden sie von der UNESCO zum Weltdokumentenerbe erhoben.
Wem gehören die wertvollen Handexemplare?
Wer sich stolzer Eigentümer dieses Nachlasses nennen darf, schien lange Zeit nicht abschließend geklärt. „Es besteht Uneinigkeit darüber, ob sie der Stadt Kassel oder dem Land Hessen gehören. Da gibt es unterschiedliche Interpretationen“, sagt die Leiterin des Kasseler Kulturamts, Dorothée Rhiemeier. Das Brüder Grimm-Museum Kassel hat zu dem Fall auf seiner Internetpräsenz seine seitenlange Sicht der Rechtslage veröffentlicht. Das Haus beherbergt eine der umfassendsten Grimm-Sammlung Deutschlands mit mehr als 35.000 Bänden.
Der Streit sei aber nun beigelegt, betonen alle Beteiligten und beißen sich auf die Zunge, um nicht erneut Öl ins Feuer zu gießen. „Stadt und Land sind sich einig, dass keine juristische Klärung angestrengt werden soll. Die Hauptsache ist doch, dass die Werke der Öffentlichkeit zugänglich sind“, betont Rhiemeier diplomatisch. Zu sehen sind die Erstausgaben der Märchen bis zum 16. Mai in einer Ausstellung im Kasseler Kulturbahnhof. Dafür sei extra eine Hochsicherheitsvitrine angeschafft worden.
Märchen faszinieren auf der ganzen Welt und ziehen vor allem Kinder in ihren Bann. Bei der Spurensuche wird man sogar im fernen Asien fündig. Der Export-Schlager „Made in Germany“ hat seinen Weg bis nach Japan gefunden. Dort sind die Grimms bekannter als Goethe oder Beethoven. Eine Zeichentrickfilm-Firma (Nippon Animation) hat die Märchen im Manga-Stil umgesetzt. Darüber hinaus wurden in Japan 50 Märchen verfilmt. Und auch nach Hollywood haben es die beiden Brüder geschafft. Nicht nur zu Walt Disney. Regisseur Terry Gilliam besetzte „Brothers Grimm“ 2005 mit Matt Damon und Heath Ledger. Auch in Deutschland hatten die Grimms ein Heimspiel. „7 Zwerge – Männer allein im Wald“ - unter anderem mit Blödel-Barde Otto Waalkes – war einer der erfolgreichsten Filme 2004, zumindest an den Kino-Kassen.
„Letzter Rest literarischer Allgemeinbildung“ Mit der Hochkultur von damals hat das alles nichts mehr zu tun. Aber: „Es ist der letzte Rest literarischer Allgemeinbildung, den wir in Deutschland haben“, sagte Märchenforscher Heinz Roelleke in einer SWR-Dokumentation. „Wenn ein Grimmsches Märchen parodiert wird, versteht das heute noch jeder.“ Für die Erzählforscherin Kristin Wardetzky haben die Grimms seiner Zeit „ein feines Empfinden für volksläufige Poesie entwickelt“.
Wer waren diese beiden Brüder, die mit ihren Veröffentlichungen von 1812 an einen Welterfolg ersten Ranges schufen? Als Nachkommen einer Theologen- und Beamtenfamilie wurden sie in Hanau geboren. Dort beginnt auch die mehr als 600 Kilometer lange Deutsche Märchenstraße, die bis nach Bremen führt. Vier Jahre nach Wilhelm kam Ludwig Emil zur Welt. Er illustrierte später als Malerbruder Grimms Märchen. Von den insgesamt neun Kindern starben drei als Säuglinge. Ihre Jugend verbrachten Jacob und Wilhelm mit der Familie in Steinau an der Straße (Main-Kinzig-Kreis), wo heute ein Museum an sie erinnert.
Während ihres Jurastudiums in Marburg lernten die Brüder Grimm bei ihrem Lehrer, dem Rechtshistoriker Carl Friedrich von Savigny (1779- 1861), den Dichter Clemens Brentano (1778-1842) kennen. Durch Savigny in historisch-kritischem Denken angeleitet und durch die Mitarbeit an einer romantischen Liedersammlung Brentanos und Achim von Arnims (1781-1831) in das Sammeln und Bearbeiten historischer und volkstümlicher Texte eingeführt, begannen die gelernte Bibliothekare selbst, Texte zusammenzutragen.
Einer der heimlichen Stars hinter Grimms Märchen ist übrigens eine Kasseler Schneidersgattin gewesen. Eine gewisse Dorothea Viehmann erzählte den Grimms einen beträchtlichen Teil der Märchen und trug damit erheblich zum noch immer größten Bestseller deutscher Sprache bei. Wilhelm und Jacob waren von ihrem Gedächtnis und Erzähltalent so beeindruckt, dass sie die „Viehmännin“ als einzige ihrer Quellen persönlich erwähnten und ihr Porträt sogar auf den Einband setzten.