BERLIN (BLK) – Im März 2010 ist im Verbrecher Verlag der autobiographische Roman „Spinnewipp“ von Egon Neuhaus erschienen.
Klappentext: Als ich am 25. Juni 1922 in der westfälischen Fabrikstadt Lüdenscheid das gebrochene Licht in einem Mietshaus erblickte, wars gerade rot auf dem Kalenderblock. Der kleine Egon Neuhaus ist ein Sonntagskind. Und sehr dünn, ein Spinnewipp, ein Spinnweben. Nach wenigen Jahren geht die Ehe der Eltern in die Brüche, das Kind wird zur Großmutter gegeben. 1933 stirbt die Oma, und der Spinnewipp kommt ins Heim. Dort entdeckt er seinen rebellischen Geist. Er wird bald zur Landarbeit gezwungen, reißt aus, erlebt die ersten sechs Jahre des Dritten Reichs hauptsächlich in Erziehungsanstalten, die zweite Hälfte übersteht er knapp in der Wehrmacht. 1945 gerät er in russische Gefangenschaft, 1947 kehrt er heim. Da er keine Arbeit findet, schlägt er sich als Schmuggler, auf dem Bau und später als Goldgräber, als Schrottsammler durch. Er wohnt in Dortmund in einem ehemaligen Luftschutzbunker, von den Bewohnern ironisch Paradies genannt. Nebenher beginnt er zu zeichnen. Nach der Währungsreform schließlich verlässt Neuhaus den Bunker und die Schrottplätze, um in München ein neues Leben zu suchen. Spinnewipp ist nicht einfach eine Autobiographie, sondern ein eminent komischer, mitunter einen derben Ton pflegender Roman, der das Leben all jener schildert, die bei den Nazis, im Krieg und in der Nachkriegszeit ganz unten waren. Dabei wird nichts beschönigt und nichts verschwiegen. Ein beeindruckendes Stück Literatur.
Egon Neuhaus wird 1922 in Lüdenscheid geboren. Ende der 40er Jahre veröffentlicht er erstmals Zeichnungen in Zeitungen. Anfang der 50er Jahre siedelt Neuhaus nach München über. Er findet dort u.a. Arbeit in einer Altpapierfabrik. Einige Radiobeiträge und kleinere Veröffentlichungen in Zeitungen folgen. Er ist in diversen linken Gruppen politisch engagiert. Die Bücher, Pamphlete und Zeitdokumente, die der unermüdliche Sammler Neuhaus sicherstellt, bereichern die Sammlungen der Monacensia und des Münchener Stadtarchivs. In letzterem ist auch ein Teil seines Nachlasses archiviert. Er veröffentlichte Gedichte, Geschichten und Zeichnungen. „Spinnewipp“ ist sein erster Roman. Egon Neuhaus stirbt 2008 in München.
Leseprobe:
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Als ich am 25. Juni 1922 in der westfälischen Fabrikstadt Lüdenscheid das gebrochene Licht eines Mietshauses erblickte, war’s gerade rot auf dem Kalenderblock. Sonntag. Zeitgleich mit meinem ersten Schrei zogen im fernen Berlin 200.000 Demonstranten durch die Straßen und im Reichstag sagte der Kanzler Joseph Wirth: „Dieser Feind steht rechts!“ Was war geschehen? Am Tag zuvor war Reichsaußenminister Walter Rathenau ermordet worden. Die Täter, Nationalisten von der „Organisation Consul“, kamen aus der „Ordnungszelle Bayern“, wo es nicht nur zu dieser Zeit in Deutschland am dunkelsten war.
Außerdem wurde in meinem Geburtsjahr aus Russland und anderen Staaten die UdSSR, aus dem Stiefelland Mussolinien und im Vatikan begann die Herrschaft der faschismusfreundlichen Piusse XI und XII. Der Schlager des Jahres hieß „Ausgerechnet Bananen“ und in Kinos lief der Gruselfilm „Nosferatu“ nach der Vorlage von „Drakula“. Es gab erst zweihunderttausend Privatautos in Deutschland, noch kein Radio und die schmutzige Wäsche rubbelten die Muttis noch auf dem Waschbrett. In alten Häusern wurde noch in Plumpsklos geschissen und zum Abwischen hing an Fleischerhaken aufgespießtes Zeitungspapier.
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Lüdenscheid liegt im Sauerland. Die Lüdenscheider sind westfälischer als die Menschen im Kohlenpott, weil es in Lüdenscheid keinen Pütt und keine Stahlkocher gab und daher keine Kumpels, die Kaczmirzak oder Kaczmarek hießen. Wenn die Lüdenscheider sich mal ein kleines Stückchen weite Welt angesehen hatten, mußten sie mit der Bahn über Brügge wieder nach Hause fahren und in Brügge oft umsteigen. In Brügge gab es einen Durchgangsbahnhof, eine freiwillige Feuerwehr und meine zweite Oma, die allerdings in meiner Geschichte kaum vorkommt. In Lüdenscheid gab es einen Sackbahnhof, ein Stadttheater, zwei Kinos und eine Kneipe, die Nahkampfdiele genannt wurde. Dort ging es manchmal rund, nach dem Motto: „Licht aus, Messer raus!“ Daneben gab es den Lüdenscheider Generalanzeiger, eine große Anzahl Metallwarenfabriken, mehrere Fußballmannschaften, ein Gerichtsgefängnis, zwei öffentliche Pissoirs und weitere kulturelle Einrichtungen. In Brügge hatten sie keine Nahkampfdiele und kein Gefängnis. Wegen ihres Durchgangsbahnhofs schnappten die Brügger über und behaupteten, in Lüdenscheid sei die Welt mit Brettern vernagelt.
In Lüdenscheids Winkhauserstraße, in einer engen Zweizimmerwohnung, in der der Wasserhahn noch auf dem Flur über einem Terrazzo-Spülbecken angebracht war und sich die Plumpsklos auf halber Treppe befanden, da war ich unter die Menschheit gekommen. Nicht gerade als Wunschkind. Doch da ich nun einmal da war, mußten mich meine Eltern auf dem Standesamt anmelden, so wie es vorgeschrieben ist. Sie hatten den kuriosen Einfall, mir die Vornamen Gustav August Alfred Egon zu verpassen. In meiner Geburtsurkunde ist Egon als Rufname unterstrichen. Gustav und August waren die Namen meiner Großväter und Alfred der meines Vaters. Meine Mutter stammte aus Brügge. Bei den Brüggern war es Tradition, ihre überschüssigen Töchter nach Lüdenscheid zu verheiraten. Die Besseren behielten sie für sich. So war ich zu meiner Oma in Brügge gekommen.
Am Tag meiner Geburt soll schöner Sonnenschein gewesen sein. Für solche Tage verwendete ein Teil des Bildungsbürgertums noch immer die Bezeichnung „Kaiserwetter“. Das Kaiserreich hatte Typen hinterlassen, die immer noch Geschichte machen wollten. Deutschnationale mit den Farben Schwarzweißrot. In unserer Straße lebten mehr schlecht als recht Fabrikarbeiter. Die waren Republikaner und froh, daß sie den Uniformfetischisten Wilhelm Zwo nicht mehr über sich hatten. Sie wählten rot oder knallrot. Das färbte auch auf uns Kinder ab. Das erste republikanische Weihnachtslied, das ich kennenlernte und auf einer bekannten Melodie gesungen wurde, hatte folgenden Text: „Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum, / der Kaiser hat in’n Sack gehau’n, / er kauft sich einen Henkelmann / und fängt bei Krupp in Essen an.“
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Literaturangabe:
NEUHAUS, EGON: Spinnewipp. Autobiographischer Roman. Verbrecher Verlag, Berlin 2010. 400 S., 13 €.
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